Sonntag, 17. Juli 2011

Michelle

Wütend setzte sie die Tasse auf die Tresen. Wütend klirrte der Löffel am Tassenrand. Der Kaffee schwappte über.

Michelle hatte genug! Sie hatte eine Entscheidung getroffen und es fühlte sich verdammt gut an! So gut wie damals, als sie mit Ihrem ersten Freund Schluss machte, als er ihr gerade zum unzähligsten Mal den Vanille Milkshake bei Mac Donald’s gekauft hatte, obwohl sie schon so oft gesagt hatte, dass sie nur den Schokomilkshake mochte. Wütend und allmächtig wie damals als sie als Teenager beschloss nie – nie wieder in die Schule zu gehen.

Michelle war stinkwütend auf die Welt.

Auf die ganze Welt!! Auf die Politiker, auf ihren Chef, auf ihren Mann, wütend sogar auf ihre dämliche Katze. Michelle lehnte sich zurück und war erstaunt, dass sie plötzlich sicher war, was sie tun würde.

Ein breites Lächeln, fast einem Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus und sie dachte: ich fange einfach hier und jetzt an. Nichts einfacher als dass!

Sie wandte sich an den Anzugsfuzzi, der versuchte lässig neben ihr an der Theke des Cafes zu lehnen: Wollen sie mein Handy haben? – sagte sie mit gewinnendstem Lächeln – Ich brauche es nicht mehr.

Der Mann schaute sie erst erstaunt und dann unangenehm berührt an und wandte sich mit einem höflichen Heben seiner Mundwinkel kommentarlos ab.

So einfach war es also nicht, na ja sie würde schon jemanden finden der ihr Handy wollte, schließlich war es ein sehr gutes Handy mit Kamera und allem Schnickschnack.

An diesem Tag sah weder ihr Chef noch ihr Mann Michelle. Sie schloss sich in ihr Dacharbeitszimmer ein und Ivan, ihr Mann hörte nur ein beständiges Scharren und Schleifen, so als würde Michelle schwere Möbel umher schieben.

Am nächsten Tag spazierte Michelle um viertel nach Elf in das kleine Büro ihres Chefs und sagte: Hi Chef, ich kündige! Äh- Ich nehme meinen Resturlaub der letzten X Jahre, den sie blöder Wichser mir nie genehmigt haben und bin seit gestern aus diesem Scheißbetrieb draußen! Und bevor der Chef auch nur einmal Luft holen konnte: Macht doch eure beschissene Abzocke alleine! Mit hochrotem Kopf und einem schwummrigen Gefühl in den Beinen wartete sie auf die Reaktion. Der Chef wurde plötzlich sehr formell und legte ihr einen Haufen Papierkram vor, den er aus fix und fertig und sauber gestapelt aus einer seiner Schubladen zog. Michelle wurde bewusst dass sie insgeheim gehofft hatte er wäre betroffen von ihrer Kündigung und würde versuchen sie zum Bleiben zu überreden. Dass er nicht einmal fragte, warum sie kündigte machte sie nur noch wütender.

Aber Michelle beschloss sich von dieser kleinen Enttäuschung nicht aufhalten zu lassen. Als nächstes machte sie sich zuhause über ihren Kleiderschrank her. Sie packte alle Unterhosen, BHs und alles andere in mehrere große Plastiksäcke. Dann stand sie stirnrunzelnd da, dann packte sie einen Teil wieder aus, zwei, drei Unterhosen, zwei drei BHs und so weiter, dann schüttelte sie entnervt den Kopf und packte alle wieder ein. Das ganze schwere Packet brachte sie dann schwitzend und fluchend zur nächsten Kirche und dort zur Kleiderspende. Die diensthabende Nonne hatte Tränen in den Augen als sie die Sachen entgegennahm: so schöne Kleidung!!! das wird ihnen der liebe Hergott sicher vergelten!

Michelle war es schurzegal was Gott mit ihr vorhatte, also sah sie die arme Nonne nur hasserfüllt an, so dass diese erschreckt zurückzuckte und sich schnell bekreuzigte. Als Michelle wieder auf der Straße stand und noch einmal darüber nachdachte hörte sich das was die Nonne gesagt hatte gar nicht so schlecht an: Vergeltung! Aber nein, das war dann doch nicht ihr Stil.

Wieder zuhause packte Michelle alle ihre Bücher in mehrere große Kisten. Nachdem sie mehrmals auf und abgelaufen war und die schweren Kisten über die zwei Stockwerke nach unten geschleift hatte, stellte sie diese vor den Eingang ihres Einfamilienhauses. Daneben schrieb sie auf einen Pappkarton in großen Buchstaben: Nehmt euch doch die Bücher, ich will den Scheiß nicht mehr!

Jetzt war sie etwas zufriedener. Sie ging erst mal in die Küche und machte sich eine Tasse Kaffee. Sie legte die Füße hoch, las in der Zeitung über Hungersnöte und Morde und hörte den Vögeln zu. War das nicht idyllisch!

Plötzlich fiel ihr etwas ein. Sie lief schnell wieder in ihr altes Zimmer und schaute sich um. Immer noch stand dort das Bett, die Pflanzen, der Schreibtisch, ihr Bücherregal und….

da klingelte es wild an der Tür. Michelle zuckte zusammen, es war viel zu früh für die Biokiste und zu spät für den Postboten. Als sie die Eingangstür öffnete, stand die alte fiese Nachbarin vom Eckhaus mit den Geranien davor.

Die fing auch gleich ohne Begrüßung an: Was fällt Ihnen eigentlich ein, mich zu beschimpfen! Ich will ihre dummen, gelesenen Bücher auch nicht! Für was halten sie sich eigentlich? Das ist doch eine Unverschämtheit!

Michelle stand wie angewurzelt da. Sie fühlte ihren Mund trocken werden und hörte ihren Herzschlag laut in den Ohren. Sie leckte sich die trockenen Lippen und sagte: Sie alte Hexe, dann kümmern sie sich halt nicht drum. Immer mischen sie sich in alles ein! Nur nicht wenn ihr Sohn mal wieder seine Kinder schlägt! Aber das ist mir egal. Sie sind mir egal und auch der dumme Ikebana/ Nachbarschaftsklub und der Ausschuss zur Pflege der toten Kriegsgefangenen. Verpissen sie sich doch einfach, sie scheinheilige Fotze!!! und damit schlug sie der alten Frau vehement die Tür vor der Nase zu.

Uuui, so etwas hatte sie noch nie getan aber es fühlte sich verdammt gut an!

Jetzt gab es noch eines zu tun, bevor ihr Mann von der Arbeit nach Hause kam.

Sie schaute auf die Uhr. Halb 3. Sie seufzte und stiefelte in Ihr Zimmer im ersten Stock.

Sie beschloss alles was sich noch in diesem Zimmer befand auf ihren Pickup zu laden, alle Möbel mitsamt ihren persönlichen Gegenständen darin.

Aber allein konnte sie das nicht schaffen, sie brauchte einen Verbündeten. Da fiel ihr der kleine picklige Zeitungsjunge von nebenan ein. Sie klingelte an dessen Haustür und sagte sehr höflich zu seiner kuchenbackenden Mutter: oh das tut mir soo leid sie zu stören, aber ich brauchte für ein paar stunden die Hilfe von Tim. Er müsste mir mit ein paar Möbeln helfen, sie wissen schon Frühjahrsputz und so… Selbstverständlich bekommt er auch ein Taschengeld von mir. Die Mutter war sofort Feuer und Flamme und so kam es dass ein mürrischer 14 jähriger ihr in der nächsten Stunde half, ihrer gesamten Besitztümer auf den Pickup zu laden.

Wenn du mir beim abladen hilfst, dann bekommst du den Dvd Player, meinen Fernseher und, sie zögerte etwas…. den Computer!

Das erstemal seit sie begonnen hatten machte sich ein Funkeln in den bisher leblosen Augen des Jungen breit und er nickte, während er versuchte sich seine Begeisterung nicht anmerken zu lassen.

Sie fuhren schweigend ein paar Block, bis Michelle anhielt.

Sie klingelte an der nächsten Haustür ein alter Mann in Jogginghose öffnete die Eingangstür. Ich möchte ihnen etwas von meinen Möbeln schenken. Ich brauche sie nicht mehr…. der Mann schaute sie schweigend ein paar Sekunden an und knallte dann wortlos die Tür zu.

auch beim nächsten Versuch ging es nicht viel besser. Die junge Frau mit einem plärrenden Baby auf der Hüfte schaute sich zwar alles genau an, schüttelte dann aber nervös den Kopf und sagte: ich weiß nicht, ich glaube lieber nicht. Mein Mann würde sicher wissen wollen warum sie die Sachen herschenken…. Michelle überlegte und antwortete: sagen sie ihm doch, dass ich keine Möbel mehr brauche und… aber die Frau hatte sich schon umgedreht und war auf dem Rückweg zu ihrem Haus.

Ratlos schaute Michelle Tim an: und jetzt?

Wir können die Sachen ja einfach in der Einfahrt abladen? War seine Idee.

Michelle schaute auf die Uhr und beschloss dass dies keine schlechte Idee wäre. Also luden sie zu zweit in der nächsten Stunde die Möbel systematisch wieder vor den Garagen / und Gartentoren und in den Einfahrten ab. Der eine bekam den alten Ohrensessel, der nächste die Kommode, dann kam das Bücherregel dran und so weiter. Sie arbeiten schnell, weil wohl beide Angst hatten, dabei erwischt zu werden. Trotzdem machte sich Michelle noch Gedanken und fügte ihrem mentalen Bild der Insassen der Häuser das fehlende Stück aus ihren Möbeln hinzu. Der gepflegte Rosengarten bekam die antike Standuhr, die so schön jede viertel Stunde schlug und das Haus mit der Rutsche den abwaschbaren rosa Klapptisch. Jetzt waren sie viel schneller fertig als gedacht und Michelle schaute auf die leere Ladefläche, auf welcher nur noch der Dvdplayer, der Fernseher und der Computer standen. Nachdem sie wieder zuhause waren, luden Tim und sie diese lezten Sachen, die Michelle besaß ab und Tim verschwand schnell in der Garage mit seinem neuen Eigentum, damit seine Mutter nicht rauskommen und dumme Fragen stellte konnte.

Michelle setzte sich in die Mitte ihres jetzt leeren Raumes, das einmal ihr Zimmer und ihr Rückzugsort gewesen war in den Schneidersitz auf den Boden. Gerne hätte sie ein Kerze angezündet aber sie hatte keine mehr. es dämmerte. Sie wartete. Und wartete. Sie versuchte ruhig zu sein und gelassen, aber ihr herz schlug unregelmäßig und ihre Handflächen wurden immer wieder schweißnass.

Dann hörte sie den Schlüssel, ihr Mann war zuhause!

Hey Michelle

Hey Liebster….

Sie hörte seine schweren Schritte einen nach dem anderen auf der Treppe. Die Dielenbretter knarrten, dann steckte Niels seinen Kopf ins Zimmer: warum sitzt du denn im Dunk…

was zum Teufel ist denn hier los_

Ich habe mein gesamtes Eigentum verschenkt und habe gekündigt. Michelle hatte sich diesen Satz sorgsam zurechtgelegt und versuchte nun ihn möglichst gelassen auszusprechen.

Ah ha.

Warum denn das_

weil ich frei sein wollte.

…..

Frei_ für was?

Frei für dich…

auch das hatte sich Michelle gut überlegt…

Für mich…. Ich versteh nicht…

Ich wollte keine Bindungen an nutzloses Zeug haben und arbeiten um das alles zu erhalten. ich will nicht mehr ich will so nicht weiterleben. Ich kann jetzt überall hingehen und du kannst mitkommen.

Mitkommen wohin? und wer soll alles bezahlen?

Du kannst mir gerne Dinge schenken, so wie ich meine Dinge verschenkt habe, ich will dass du bei mir bleibst weil du mit mir Zeit verbringen willst und mit mir teilen willst. Ich will nicht, dass wir durch Eigentum aneinander gebunden sind.

Niels war blass geworden und lehnte sich an die leere Wand.

Die Worte hallten im Zimmer>

Dann sagte er leise: Ich will aber keine Verantwortung für dich. Ich will nicht der einzige sein, der Verantwortung hat. Du kannst mir das nicht aufbürden…

Michelle war sprachlos.

… und wenn wir schon dabei sind, ich habe es satt dass du immer alles auf mich abschiebst und dich so hilflos und abhängig von mir machst. Mir reicht es. Ich spiele da nicht mit. Ich lasse mich nicht mehr erpressen, nicht von dir, nicht von deinem Vorwurf über unsere ungeborenen Kinder, nicht von diesem Mausoleum unserer Beziehung…. Ich ziehe aus …. das wollte ich dir schon lange sagen.

Michelle starrte vor sich hin und hatte das Gefühl alles schon mal erlebt zu haben, alles war so bekannt und doch ganz neu. Draußen begannen die ersten Schneeflocken lautlos vom Himmel zu fallen.

von Carolin Gaiser

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen