Aug 11 2009
Augenblick
enzo cage
Stille… Im Augenblick
Nein, nicht ganz… da fliegen noch zarte Klänge – wie Motten in Zeitlupe.
Ich suche meinen Atem, meinen Puls… und finde nur meine Fingerkuppen.
Der alte Holzstuhl ist hart, der Putz blättert ab, der Tisch ist kühl und feucht.
Das Glas des Fensters ist durchzogen von kleinen Blasen. Es ist schmutig und voller Wassertropfen.
Mein Atem kondensiert, macht alles unscharf. Unscharf.
Unscharf sind auch meine Gedanken. Was ich denke? Nichts.
Nur selten ein Wort, oder einen Satz. Eher Wellen von Stimmung, oder blasse Farben.
Mein Augenlid schlägt – und kurz wird es schwarz. Für einen Augenblick.
In der Ecke sitzt ein nasser, grauer Pfau und rührt sich kaum… so wie ich.
Ich könnte Dir schreiben – hab es nie getan. Warum nicht?
Stillstand für den Augenblick. Ein langer, langer Blick.
Ich schau durch dich hindurch und seh dich nicht.
Ich fühl durch mich hindurch und fühl mich nicht.
Ich schrei laut auf und man hört mich nicht.
Ich schwenk den Kopf und nichts verändert sich.
War das so gedacht? War ich der Richtige, manchmal? Für einen Augenblick?
Und so schließe ich die schwere Decke um mich und weiss… jetzt wird’s kalt!
Ich hab den Punkt genau gesehen, den Umkehrpunkt. Den „Nicht-Mehr-Umkehrpunkt.
Ich lass es geschehen, lass mich treiben, sehe nicht zurück.
Treibe weg vom Licht. Weg von Dir. Weg von allem.
Hinein in ein schwarzes Loch.
Warum lass ich das zu? Warum tu ich nichts?
Ich weiss warum… nur im Augenblick, bin ich frei.
Stille… Im Augenblick
Nein, nicht ganz… da fliegen noch zarte Klänge – wie Motten in Zeitlupe.
Ich suche meinen Atem, meinen Puls… und finde nur meine Fingerkuppen.
Der alte Holzstuhl ist hart, der Putz blättert ab, der Tisch ist kühl und feucht.
Das Glas des Fensters ist durchzogen von kleinen Blasen. Es ist schmutig und voller Wassertropfen.
Mein Atem kondensiert, macht alles unscharf. Unscharf.
Unscharf sind auch meine Gedanken. Was ich denke? Nichts.
Nur selten ein Wort, oder einen Satz. Eher Wellen von Stimmung, oder blasse Farben.
Mein Augenlid schlägt – und kurz wird es schwarz. Für einen Augenblick.
In der Ecke sitzt ein nasser, grauer Pfau und rührt sich kaum… so wie ich.
Ich könnte Dir schreiben – hab es nie getan. Warum nicht?
Stillstand für den Augenblick. Ein langer, langer Blick.
Ich schau durch dich hindurch und seh dich nicht.
Ich fühl durch mich hindurch und fühl mich nicht.
Ich schrei laut auf und man hört mich nicht.
Ich schwenk den Kopf und nichts verändert sich.
War das so gedacht? War ich der Richtige, manchmal? Für einen Augenblick?
Und so schließe ich die schwere Decke um mich und weiss… jetzt wird’s kalt!
Ich hab den Punkt genau gesehen, den Umkehrpunkt. Den „Nicht-Mehr-Umkehrpunkt.
Ich lass es geschehen, lass mich treiben, sehe nicht zurück.
Treibe weg vom Licht. Weg von Dir. Weg von allem.
Hinein in ein schwarzes Loch.
Warum lass ich das zu? Warum tu ich nichts?
Ich weiss warum… nur im Augenblick, bin ich frei
Jun 14 2009
Der Zauberwald
enzo cage
Der Zauberwald
Es war einmal ein bunter Zauberwald, dessen uralte Baumriesen mit ihren verschlungenen Lianen in einem dichten Gestrüpp von Büschen und Gräsern standen. Der weiche Waldboden war trocken und warm und alles war erfüllt von duftenden Blüten, Schmetterlingen und wilden Tieren. Und wenn morgens die Sonne aufging, wurde die Luft von einem Brausen erfüllt, in dem das Zwitschern der Vögel, das Surren der Insektenstaaten und das Rauschen der Winde sich zu einem weichen Netz versponn, in dem die Königen des Zauberwaldes geduldig lag, und über alle und jeden mit großer Liebe wachte. Sie war in wallende, weiße Kleider gehüllt und noch ganz jung, keine 14 Jahre alt. In Wirklichkeit war sie noch ein kleines Mädchen und doch hielt sie allein, all die Lebensfäden des Zauberwaldes in ihren Händen. Einst, so erzählt man sich, vor langer, langer Zeit, lag auf dem damals noch tief verschneiten Wald eine schwere Melancholie und keine Blume war je gesehen. Bis eines Tages ein schillernder Kondor über die Wipfel des Waldes flog und der Schnee schmolz, alles aufblühte und dem Wald seine Melancholie genommen war. Man sagt, er habe damals die gestalt eine kleinen Jungens angenommen und sich im Walde versteckt. Seit dem rankten viele Geschichten um den Zauber im Zauberwald, die Waschbären und Fischotter erzählten es ihren Jungen zum schlafen gehen, nicht nur Sonne und Regen brauche der Wald, seine Kraft ziehe er aus einem seltenen Lebenselixier. Nur die Tränen der Königin konnten verhindern, dass alles verdorrte und das große Kälte über das Land ziehe. Niemand hatte die Königin je weinen sehen, sie strahlte meist wie die Sonne. Doch trug sie eine schwere Melancholie in sich und behielt das als Geheimnis für sich. Jede Nacht, wenn alles glücklich und zufrieden schlief, rollte sie sich zu einem Kokon zusammen und wurde von einer bleiernen Schwere zu Boden gezogen. Dann erlöste ihr lautloses Schluchzen ein Bächlein dicker Tränen, die ihr über die Wangen in den Waldboden liefen. Jede Nacht brach es so aus ihr heraus. Sie war noch so jung und noch nicht kräftig genug um diese Bürde zu tragen. Die Schwere zog sie Nacht für Nacht tiefer zu Boden, raubte ihr bald alle Freude am Leben und machte sie kalt und leer. Und eines Nachts, nachdem sie für Stunden nur geweint hatte und ihr Schluchzen schon weit zu hören gewesen war, zerbrach etwas in ihr, sie öffnete ihren Kokon in schwarzer Nacht und hatte seit dem ihr strahlen verloren. Grau und kraftlos saß sie auf dem Boden des Zauberwaldes und die Tiere des Waldes kamen herbei. Doch keines konnte ihr helfen, keines konnte sie heilen. Sie hatte einfach keine Tränen mehr übrig und der Wald schien seinen Zauber zu verlieren. Und von diesem Tag an, fiel kein einziger tropfen Regen mehr und die Königin sah zu, wie erst die Gräser verdorrten, dann die Büsche und bald auch die stolzen, großen Bäume. Die Tiere des Waldes suchten das Weite, da es jeden Tag kälter und kälter wurde. Als der erste Schnee fiel rollte die Königin sich wieder zu einem Kokon zusammen und war als weiße Kugel unter der wachsenden Decke aus Schnee bald kaum mehr zu sehen. Kein Tag verging an dem sie nicht versucht hatte zu weinen, doch fehlte ihr dazu die Kraft. Als nach ein paar Wochen in all der Eiseskälte nichts mehr übrig war vom Zauberwald und die junge Königin einsam, halb erfroren und eingerollt im ewigen Eis ans sterben dachte, hörte sie ein eigentümliches Geräusch, dass sich vom Zischeln der Schneeverwehungen abhob.
“Hicks!” und noch einmal “Hicks!” Sie öffnete vorsichtig ihren Kokon und steckte ihre Nasenspitze heraus. Ein torkelnder Pinguin mit feuerroter Pudelmütze und kleinem Rucksack kam in Schlangenlinien auf sie zu. Mit viel Eifer, jedoch wenig Geschick versuchte er ein eisenbeschlagenes Holzfässchen vor sich her zu rollen. Verwundert öffnete die Königin weit ihre Augen und reckte den Hals. Der Pinguin sah derart putzig aus in seinem vornehmen Pudelmützenfrack, dass sie für einen Moment die Kälte in ihren Knochen vergaß. “Wumms!”, rief er laut aus, als er das Gleichgewicht verlor und zur Seite umkippte. Alle Viere von sich gestreckt, lag er ein paar Pinguinatemzüge lang auf dem Rücken. Dann rief er laut “Budderbrooooooot!!!” und zauberte damit ein Lächeln auf das Gesicht der Königin. Dann zog er alle viere wieder zu sich, verharrte so einen Moment, rief “uuuuuuund…” und sprang mit viel Schwung wieder auf seine Füße “Schnapppps!!!”, und ruderte nach Gleichgewicht mit seinen Stummelflügeln. Noch sehr wacklig auf den Füßen, nuschelte er “Budderbroot mit Schnapps!!” und versuchte sich, etwas erschöpft, auf seinem Fässchen abzustützen, was prompt davon kullerte und ihn wieder, wie einen Mehlsack vorn über umfallen ließ. Die Königin durchfuhr einen Ruck, so als wollte sie den Pinguin noch schnell stützen, doch war er dazu viel zu weit weg. Dann lachte sie kurz auf und rief: “He duuu…” Der Pinguin war so unglücklich umgefallen, dass sich sein spitzer Schnabel tief ins Eis gebohrt hatte und nun feststeckte. Er antwortete “Hmmhmmhmmhmm!!!!!” Und die junge Königin lachte. “Na da sind wir wohl umgefallen!!!”, und stand auf, um dem Pingin hoch zu helfen. Doch der machte sich aus der verzwickten Situation einen Spaß und fing mit den Füßchen an zu paddeln, so dass er sich immerzu im Kreis um seinen Schnabel drehte und rief dabei “Uuuuiuuiuiuiiiuiiiuiiiii!!!”. Und die Königin lachte und lachte und konnte gar nicht mehr aufhören. Bis er aus dem Kreislauf ausbrach, auf sie zu glitt und auf allen vier Buchstaben sitzend etwas schielend stotterte “Budderbrooot mit Schnappps!”” und der Königin dabei vor lauter lachen eine Träne die Wange herunter lief. Ein warmer Wind fuhr durch ihre wallenden Kleider. Sie wischte sich vorsichtig die Träne ab und hielt sie vor sich in den Wind. Ein kleiner glitzernder Tropfen lag auf ihrem Finger. Und ganz langsam, wie einen junges Küken balancierend, führte sie ihren Finger zu Boden und ließ die Träne im Eis versickern. Und augenblicklich schmolz das Eis und ein Loch entstand, dann ein Kegel, dann ein ganzer Krater, der auch bald blanken Erdboden frei legte und der wuchs und wuchs und wuchs. Im Nu standen die Königin und der Pinguin auf fester Erde, aus der Gräser und Blüten sprießten. Und sie lachte laut auf vor Glück und der Pinguin rief “Budderbroooooot” und ihr liefen Freudentränen über die Wangen.
Ein paar Wochen später stand der Zauberwald schon wieder in seiner ganzen Pracht, ganz wie früher und schöner da. Die Königin und der Pinguin mit der feuerroten Pudelmütze waren dicke Freunde geworden und hatten gemeinsam einen kleinen Wanderzirkus aufgemacht. Gemeinsam mit dem Löwen, dem Schaf, der Giraffe und der kleinen Feldmaus zogen sie durch den Zauberwald, führen Zaubertricks und allerlei Unfug auf und hatten dabei einen Riesenspaß. Und manchmal, da weinte die Königin ein paar Freudentränen. Und als einmal ein kleiner Junge den Zirkus besuchte und die Königin vor Freude weinen sah, lachte er und verwandelte sich in einen schillernden Kondor und brach auf.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie alle heute noch, im Zauberwald.
May 14 2009
Das Ritual
enzo cage
Herr Dienstweg kam völlig ermattet von der Arbeit nach Hause. Die Aschefabrik war der Ort seiner täglichen Niederlagen. Vorbei am wuchernden Efeu kämpfte er sich zur Wohnungstür, zur letzten Stätte der Sicherheit, dem Haus am Rande der Stadt. Die Glocke, die kläglich zu bimmeln begann, als er die Tür öffnete schubste ihn in eine bewusstlose Lethargie. Die Pflicht des Tages war ausgestanden, doch nun begann der zweite Teil seines Lebens, der auf seine Art schmerzhaftere Teil. Das antriebslose Warten.
Pünktlich wie ein Uhrwerk verließ er jeden Tag das Haus und fand wieder zu ihm zurück. Das war sein Leben, sein Ritual. Es gab keine Verzögerung, keinen freien Tag, es gab keine Familie, keinen Besuch, keine Freunde. Die wenigen Nachbarn die er hatte, ignorierten ihn, machten sich nicht einmal die Mühe den Blick abzuwenden, sie sahen einfach durch ihn durch – als wäre er gar kein Mensch. Er lebte völlig isoliert im Haus am Rande der Stadt.
Herr Dienstweg schloss die Tür hinter sich und noch bevor die Glocke sich endlich beruhigt hatte lag er schon auf seinem verschlissenen Sofa. Ein paar alte Uhren tickten. Er presste die Augen zu und versuchte die kalten Wellen, die durch seinen Kopf schlugen zu unterdrücken und stattdessen absolute Leere herzustellen. Darin war er gut. So lag er eine Zeit lang da – regungslos. Sein Atem wurde schwächer, die Kälte wich aus seinen Kleidern. Nach und nach kehrten wieder Bilder in seinen Kopf zurück, doch verändert. Statt dem rauschigen Schwarzweiß tanzten nun schwache Pastelltöne. Unbeweglich lag er da. Er hatte den Tag überlebt.
Nach einem bescheidenen Abendessen und einem langen Blick auf eine schmutzige Wand setzte er sich an seinen Schreibtisch, zog ein weißes Blatt Papier hervor, füllte seinen Füllfederhalter auf, schubste eine vertrocknete Fliege von der Tischplatte und stellte die Utensilien, die er zum schreiben benötigte exakt an ihren Platz. Dann richtete er seinen Blick wieder auf die Wand.
28. November
Die Arbeit war schrecklich wie immer. Herr Druck und seine Mannschaft haben mich wieder gedemütigt. Ich werde morgen vor meinem Vorgesetzten sprechen müssen. Ich schaffe das nicht, es muss sich etwas ändern. Das alles könnte noch hundert Jahre so weiter gehen und ich würde einfach daran kaputt gehen und sterben. Diese Welt ist unfassbar störrisch – unveränderbar. Wenn man versucht etwas zu bewirken verkrampft sie sich und ist noch unverrückbarer als vorher. Warum kann ich nichts bewegen? Ich schaffe nicht einmal die nichtigsten Dinge. Meine Arbeit saugt mich aus und wenn ich in mein Sofa falle bin ich kraftlos und tot. Wie lange schiebe ich es eigentlich schon vor mir her den Efeu zu beschneiden? Man kommt kaum noch ins Haus und was denken wohl die Leute über einen solch überwuchernden Garten. Also, hiermit beschließe ich morgen den Efeu zu beschneiden, das mache ich gleich anschließend an die Arbeit, damit ich keine Zeit vergeude.
> Entzückt von der Tatsache das er einen Entschluss gefasst hatte wurde sein Körper von einem Rinnsal der Kraft durchflossen.
Und wenn ich gleich dabei bin könnte ich mich auch noch um das Dachfenster kümmern. Wenn ich es sofort gerichtet hätte, hätte ich mir fünfzigmal das Ausleeren vom Wasserkübel sparen können. Die Arbeit ein neues Milchglas einzusetzen ist dagegen harmlos. Nur im Keller das Glas zurechtschneiden, der Zettel mit den Maßen müsste noch unten liegen und dann noch einsetzten. Warum habe ich das so lange aufgeschoben?
> Ein zweites Rinnsal gesellte sich zum ersten und fragte: “Was machst du denn hier?“ Das andere antwortete: „Keine Ahnung, bin auch neu hier!“
Was mich wirklich ärgert sind die frechen Kinder, die mir ständig Müll in den Garten werfen. In deren Alter hätte ich es niemals gewagt mich über Erwachsene auf solch eine Weise lustig zu machen. Ich hätte viel zu viel Angst davor gehabt, dass sie einmal rauskommen und mich verprügeln. Aber mit mir kann man es ja machen, ich werde sie nicht verprügeln und das scheinen sie zu spüren. Aber erschrecken kann ich sie doch wenigstens. Wenn die Lauser morgen wiederkommen springe ich hinter einem Busch hervor und schreie ihnen hinterher, dass ich die Polizei gerufen habe, dann dürfte ich die los sein.
> Ein Rinnsal der Macht gesellte sich zu den beiden. Die drei verstanden sich auf abhieb und scherzten ausgelassen ob sie zusammen das Staatsoberhaupt stürzen, oder lieber gleich die Weltherrschaft an sich reißen sollten.
Herr Dienstweg senkte den Kopf. Er dachte an das unangenehme Gespräch, dass ihm morgen in der Aschefabrik bevorstand und ihm fuhr ein Stich in den Magen. Er kannte diese Gespräche und wusste, was sie mit ihm anstellten. Aber anstatt zu resignieren und einfach abzuwarten stellte sich etwas in ihm quer, etwas das ihm Kraft verlieh. Ein Feuer der Auflehnung entfachte in ihm. Diesmal würde er keine fremde Schuld auf sich nehmen und reinen Tisch machen. Er würde alle Vorwürfe zurückweisen und an seine langjährige, gute Arbeit erinnern.
> Die drei Rinnsale bekamen Unterstützung von einem Bächlein der Hoffnung, dass mehr Wasser führte als alle drei zusammengenommen. Das Bächlein sprach: „Freunde, ich glaube, es wird Regen geben.“
Warum soll ich Herrn Druck und anderen eigentlich decken? Die sind sich so sicher, dass ich mich nicht wehere, dass sie mich sogar morgens noch lachend begrüßen können. Diese Schweine! Morgen werde ich auspacken. Ich werde meinen Vorgesetzten klipp und klar darlegen, dass nicht ich derjenige bin, für den er mich hält, aber ich werde es nicht an die große Glocke hängen. Vielleicht bekomme ich sogar meine Überstunden bezahlt. Die Jungs werden sich wundern. Ich werde auspacken.
> Und es gab Regen. Noch kam er zögerlich, wie absinkender Nebel in der Mittagshitze.
Herr Dienstweg stand auf und blieb vor dem Tisch stehen, an dem er geschrieben hatte. Eine Antike Tischlampe aus Kupfer warf einen scharfen Kreis aus Licht auf seine Schrift. Er liebte dieses Bild – ein Stillleben. Es war für ihn wie eine sanfte, schwebende Musik. Alles stand an seinem Platz, an dem Platz an dem es schon so viele Jahre gestanden hatte und er dachte wieder den alten Gedanken. Sein Schreiben. Er hatte immer geschrieben, doch niemals etwas vollendet. Er besaß nichts außer einem Stapel beschriebener Blätter ohne Zusammenhang. Er hatte sich immer so gewünscht schreiben zu können – nach Hause zu kommen, sich an seinen Roman zu setzen und erst nach sechs Stunden von der Müdigkeit geweckt zu werden. Er wünschte sich etwas zu hinterlassen, etwas das ihn ausmachte, so als ob sein Leben nicht ohne ihn stattgefunden hätte. Und er wusste, dass alles was er sich wünschte auch in ihm steckte, nur verborgen und unterdrückt. Verdrängt von einer Gesellschaft, die ihn in einer vorgestanzten Schablone gepresst hielt und keine Notwendigkeit für wohlbefinden sah. Gelähmt durch eine Hierarchie, an der er nichts ändern konnte. Doch hatte er immer noch ein Stückchen Freiheit. Was er tat, wenn er die schwelle seiner Haustür überschritt entzog sich dem Einfluss dieser kalten Welt. Dies war ein Moment, in dem sein Wille stark war. Herr Dienstweg glaubte jetzt an die Möglichkeit seine Zukunft zu leben. Es mußte möglich sein die lähmende Welt da draußen zu vergessen und sich hier drin eine eigene zu bauen. Es lag an ihm. Wenn sein Wille nur stark genug war. Und er beschloss seinem Schreiben höchste Priorität zu geben. Nichts sollte ihn mehr ablenken, keine Lethargie mehr hemmen. Ab morgen würde er alles das schreiben, was in ihm steckt, alles was nie heraus durfte.
> Der sinkende Nebel hatte sich zu vollen Tropfen geformt, die, als sie auf den trockenen Boden fielen, platzen wie überreiche Früchte und sich in viele kleine Splitter teilten, die wie russische Tänzer in allen Farben auseinander stoben. Man konnte es riechen, der Monsun zog schon über die Berge.
Und da war wieder dieses Gesicht, der Blick der ihn schon so lange fesselte. Sie war ein Teil seines Lebens geworden, obwohl sie noch kaum ein Wort gewechselt hatten. In seiner Vorstellung, lebte er schon lange mit ihr, ohne, dass sie es je bemerkt hätte. Wie oft hatte er sich gewünscht ihr all das zu sagen, was in seiner Einsamkeit keiner hören konnte. Einmal in der Woche konnte er sie sehen und oft hatte ihn dieser Moment die Tage überstehen lassen. Es musste einen Weg geben ihr das zu sagen. Er hatte ihr so vieles so erzählen.
Ein Brief. Nur ein Brief war in der Lage dieses Schweigen zu brechen. Er würde ihr ein Kuvert zustecken, dass die Brücke über all das nicht Ausgesprochene schlagen würde. Sie würden sich treffen und es würde einen Anfang geben. Das alles könnte passieren und nur ein paar Zeilen waren dazu notwendig. Es erschien ihm so leicht. Wie konnte etwas so leichtes bisher so schwierig gewesen sein. Und schon durchströmte es ihn von Formulierungen, die alles in Bewegung setzen würden. Ja, er würde diesen Brief schreiben, einfach weil er nichts verlieren konnte.
> Heftiger Regen peitschte nun die Steppe. Überall sammelte sich Wasser und bahnte sich kraftvoll seinen Weg zur Küste.
In seiner Erregung bäumte er sich auf, wagte einen Blick in den Spiegel und sah tief unter sich das Männlein, das täglich gesenkten Kopfes seinen Weg zur Fabrik nahm. Wie lächerlich erschien ihm sein tägliches Unterwerfungsspiel. Jetzt hatte er alles um auszubrechen. Die Gitterstäbe des Fabrikgeländes erschienen ihm wie dünne Ästchen, die allein sein Atem wegfegen konnte. Warum ließ er das mit sich machen? Wie konnte eine so kleine Welt ihm Anweisung geben? Er wusste, dass er alles tun könnte, doch was er bis heute getan hatte war nichts außer der Fabrik zu dienen. Das war absurd. Er konnte sich doch mit allem, was in ihm steckte, durch das Leben schlagen wie es ihm beliebte. Es gab tausend Wege sich frei zu machen, tausend Existenzen jenseits dieses Siechtums. Alles was ihm noch im Wege stand war die Entscheidung sein Leben selbst in die Hand zu nehmen und nicht die Triangel in einem gigantischen Orchester unter einem depressiven Dirigenten zu spielen. Es lag in seiner Hand. Sein Wille war ihm der Schlüssel Burgtor, dass ihm die Wächter nie öffnen wollten, doch jetzt lag er ihm der Schlüssel leicht in der Hand. Bei Tagesanbruch würde er sein Lager verlassen, vor die Wächter treten und ihnen mit Stolz ins Gesicht sagen das er die Entscheidung gefällt habe, die Burg für immer zu verlassen, von nun an keinem Herrn, keinem Fürsten und keinem König mehr zu dienen und sein Glück in der Welt da draußen aufzusuchen, um mit ihm alt zu werden.
> Tausend Stürme tobten. Die einst noch dürre Welt wurde erschlagen von Regengüssen, die alles mit sich rissen, was sich ihnen in den Weg stellte. Reißende Flüsse gruben tiefe Narben in den Savannenboden und schwemmten den von der Sonnenhitze glühenden Sand hinunter zum Meer, um ihn für immer zu ertränken. Das von aufzuckenden Blitzen erleuchtete Inferno wurde begleitet von schwarzen Wolkenmassen, hoch wirbelnder Gischt, zerbrechenden Zypressen, und dem Stöhnen von nackten Sehnen in blutgetränkten Orkanwinden.
So ließ sich Herr Dienstweg in sein Bett fallen, betäubt von Euphorie, den kostbaren Moment des Glücks auskostend. Die Nacht war stürmisch, seine Träume bunt und wild. Grrrrrrrrrrrrrrrr! 5.30 Uhr. Der Wecker schubste ihn in das Ritual. Mechanisch stand er auf, zog sich ohne nachzudenken an, machte sich ein Wurstbrot und verließ das Haus…
> …und eine pralle, goldgelbe Sonne brannte wieder auf den ausgedörrten Savannenboden.
[ geschrieben ( 95-11-28 ) - überarbeitet und gelesen 13.05.2009 ]
May 12 2009
Das Mäusemärchen
Susanne
Der Mäusekönig war ratlos: Er war alt und gebrechlich geworden und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er endlich Thron und Zepter an seinen ältesten Sohn übergeben konnte. Doch der junge Mäuseprinz Frederik machte keinerlei Anstalten, seinen Vater auf dem Thron abzulösen. Viel lieber buddelte er sich durch die grünen Hügel, fraß sich durch die Kornfelder oder spielte Nüsseversenken. Wie sollte ein solcher Taugenichts jemals ein Königreich regieren? fragte sich der alte König Nacht um Nacht…
Wieder lag der König wach und zermarterte sein kleines Mäusegehirn: wie konnte er Frederik die Pflichten und die Verantwortung beibringen, die so ein König zwingend brauchte? Er hatte schon alles probiert aber sogar die Drohung, dass Frederik von dem großen Kater heimgesucht werden würde, hatte nichts gebracht. Frederik hatte ihn nur ausgelacht. Der Mäusekönig war ratlos und sein Herz wurde schwer. Er wusste, sein Erdenleben würde bald beendet sein und wenn er an sein Mäusevolk dachte, dass von seinem verantwortungslosen Sohn regiert werden sollte, dann wurde ihm ganz Angst und Bange…
„Kannst du wieder nicht schlafen?“ piepste da seine Frau Irma neben ihm. Der Mäusekönig blickte sie mit wässrigen Augen an und seufzte schwer. „es ist wegen Frederik, stimmts?“ Der Mäusekönig nickte traurig. „Fridolin, so geht es nicht weiter. Ich habe lange nachgedacht, denn es tut mir in der Seele weh, dich leiden zu sehen. Mit Frederik ist nicht zu reden, das einzige, was er im Kopf hat ist, wie er an den Wächtern der königlichen Vorratskammer vorbeikommt um sich den Bauch vollzuschlagen. Seine einzige Leidenschaft ist Essen. Ich glaube, die einzige Lösung ist, Frederik zu Griselda zu schicken.“
Fridolin blickte seine Frau erschrocken an: „Du meinst Griselda, die Mäusehexe? Aber was ist, wenn sie ihn verhext oder verflucht? Denk nur, was mit deinem Vater passiert ist- bis zuletzt glaubte er, er wäre ein Meerschweinchen und hat nur noch Gras gefressen, bis sein Magen explodiert ist!“ Irma nickte- „ich weiß, es ist gefährlich und vielleicht sehen wir unseren Sohn nie wieder aber ich sehe keine andere Möglichkeit- sie muss ihm zeigen, was aus Fiepsland wird, wenn er das Land regiert und sich nicht ändert.“ Fridolin überlege: Wahrscheinlich hast du recht- es ist wohl die einzige Möglichkeit Frederik zur Vernunft zu bringen.“
Am nächsten morgen wachte Fridolin früh auf und tippelte zu Frederiks Schlafgemach. Da lag sein Sohn- eingerollt im weichsten Stroh und schlief selig, neben ihm, in Bissweite lag das Beste Stück Käse, das es in Fiepsland gab. Sein Sohn- sein einziger Sohn, den er so liebte und der doch-das musste sich Fridolin eingestehen- eine Entäuschung war. Nur mühsam konnt Fridolin seine Tränen unterdrücken. Er musste jetzt stark sein- für sein Land- und für sein volk. Er räusperte sich: „Frederik? Frederik, wach auf!“
„gibt’s schon frühstück?“ murmelte sein Sohn verschlafen.
„Nein- ich habe mit dir zu reden“
„Hat das nicht Zeit bis später? Ich bin noch so müde und außerdem hab ich Hunger“ quengelte Frederik
„Nein- mein Sohn, was ich dir zu Sagen habe dultet keinen Aufschub mehr!“
Da endlich rappelte sich Frederik aus seinem Stroh auf und blickte seinen vater mit verschlafenen Augen an. „Was gibt’s denn so wichtiges? Und komm mir jetzt bloss nicht wieder mit Schauermärchen vom großen Kater, der mich holen wird wenn ich mich nicht ändere- ich habe dir schon mal gesagt, ich glaube nicht an diese Ammenmärchen!“
„nein mein Sohn- keine Angst, ich werde dich nicht mit Geschichten vom großen Kater langweilen. Lange Zeit habe ich meine Hoffnungen und Träume in dich gesteckt- ich wollte, dass du Fiepsland regierst- nach bestem wissen und gewissen- Aber deine einzige Sorge ist, was es als nächstes zu Essen gibt- und so kann kein Land regiert werden. Ich habe mich mit deiner Mutter beratschlagt und wir sehen beide keine andere Möglichkeit: wir schicken dich zu Griselda- vielleicht kann sie dir beibringen, was Verantwortung beduetet“
Frederik wurde schlagartig blass um seine kleine Mäusenase „Ihr wollt mich zur Mäusehexe schicken? Aber ihr wisst doch, was mit Opa passiert ist, nachdem er bei Griselda war, Er dachte, er wäre ein Meerschweinchen und hat soviel Gras gegessen…“
„… bis sein Magen explodiert ist- ja, uns ist die Gefahr bewusst- aber wir sehen keinen anderen Ausweg“ vollendete sein Vater den Satz. „Schon morgen wirst du auf Griselda treffen- ich habe bereits einen Boten zu ihr geschickt, der sie zu uns bringt.“ Frederik war sprachlos- sprachlos vor Entsetzten- nie hätte er gedacht, dass sein Vater ihm das antun würde- dabei war er sein einziger Sohn! Aber gut- wenn der Vater dachte, dass ihm das Angst mache- dann hatte er sich getäuscht! Er würde seine Angst nicth zeigen! Ganz im Gegenteil! „Wie du willst Vater! Ich bin bereit! Und jetzt entschuldige mich, gestern ist die neue Käselieferung eingetroffen, ich habe Hunger!“
Am nächsten Tag war es soweit. Äußerlich gefasst und gelassen tippelte Frederik hinter seinem Vater her- da war er, der Speisesaal. Die königlichen Wächter öffneten die Tür und sein Vater sagte: „Mein Sohn- um Fiepsland regieren zu können musst du erwachsen werden- was auch immer Griselda dir prophezeit, nimm es in Dankbarkeit und Demut an! Viel Glück!“
Frederik trat ein und hinter ihm schloss sich lautllos dir Tür. Da, nahe am Kamin sass Griselda- ganz grau war ihr Fell, flackernd fiel ihr Schatten an die Wand. Frederiks kleines Mäuseherz schlug ganz schnell.
Vorsichtig näherte er sich dem Kaminfeuer- Griselda machte keine Anstalten, ihn zu begrüßen, sie drehte noch nicht einmal den Kopf in seine Richtung. Frederik war jetzt dicht vor ihr und erschnupperte mit seiner Mäusenase den Duft Griseldas- alt, modrig und irgendwie unheimlich roch die Mäusehexe. Frederik räusperte sich doch Griselda reagierte nicht. Unschlüssig tippelte Frederik noch ein bisschen näher. „Griselda?“ piepste er nervös. Wieder: Keine Reaktion. Langsam wurde Frederik ungeduldig und er sagt mit lauter, fester Stimme: Griselda? Kannst du mich hören?!“ er beugte sich über die Mäusehexe- und erstarrte- weißer Schaum hatte sich vor ihrem Maul gebildet, sie röchelte nach Luft und ihr kleiner, verschrumpelter Körper zuckte unkontrolliert. Plötzlich fiel sein Blick auf den Boden und er sah die Nussschalen der königlichen Ernte. Griselda blickte ihn mit letzter Kraft flehend an. Da wurde es Frederik plötzlich klar: Griselda hatte sich an den Nüssen verschluckt und war gerade im Begriff zu ersticken. Oh Gott- und nur er war hier- im riesigen Speisesaal. Was sollte er tun? Es war keine Zeit mehr, um nach draußen zu laufen und die Wächter zu rufen- er musste handeln, jede Sekunde zählte! In seinem Mäusehirn sprudelten die Gedanken durcheinander- panisch überlegte er hin und her. Jetzt lag es an ihm- die Verantwortung für das Mäuseleben einer der wichtigsten Personen von Fiepsland lag einzig und allein in seiner Hand. Er musste Griselda retten. Er musste! Griselda lag mittlerweile röchelnd und sich in Krämpfen windend am Boden.
Und plötzlich wusste er, was zu tun war. Er nahm Anlauf und sprang mit voller Kraft auf Griseldas Bauch, wie ein Trampolin hüpfte er auf ihr herum, bis plötzlich, mit einem Lauten Pfeifen ein Stückchen Nussschale im hohen Bogen aus ihrem Mäusemund flog. « Griselda, Griselda, hörst du mich ?“ Griselda schlug die Augen auf und blickte ihn durchdringend an- „Frederik- du hast mir das Leben gerettet- du hast klug und verantwortungsvoll gehandelt. Und was du für eine deines Volkes getan hast, das kannst du auch für viele tun! Du wirst ein guter König werden!“ Fridolin wusste nicht, was er sagen sollte. Ein bislang unbekanntes Gefühl durchströmte ihn- Es fühlte sich warm und sanft an- so als hätte er Suppe gegessen- aber er fühlte sich nicht schlapp und träge, wie so häufig nach einer Mahlzeit- er fühlte sich leicht und beschwingt und er wusste: er würde Fiepsland ein guter König sein!
May 12 2009
Wenn der Frühling kommt
Susanne
Die Sonne scheint ganz zaghaft
Die Bäume sind noch kahl
Die Vögel zwitschern leise
Als wärs das erste Mal
Schnee schmilzt glitzernd in der Sonne
Im Wasser spiegelt sich die Welt
Ganz frisch und neu ist jeder Tag
Das ist es, was mir so gefällt
Kaffee trinkt man jetzt draußen,
Ein T-Shirt ist zu kühl
Ganz sanft kommt er, der Frühling
welch herrliches Gefühl
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May 12 2009
Vielleicht besser ohne dich
Susanne
Vielleicht besser ohne dich.
Der Sommer ist vorbei und unser Weg ist hier zu Ende-
Die Mauer ist zu hoch- siehst du diese steilen Wände?
Seh keine Tür, kein Fenster u keinen einzigen Spalt
Die Wand ist viel zu glatt, ich finde keinen Halt
Du fängst mich nicht auf und ich hab Angst zu fallen
Seh den Boden näherkommen- und mich unten aufprallen
Ich dreh mich noch mal um- der Weg war so schön
Bin so oft mit dir geflogen- jetzt muss ich gehen
Mein Bauch ist voller Steine- wer hebt mich hoch?
Ich lieg hier ganz alleine- wie lange noch?
Ich kann nicht mit und nicht ohne dich
vielleicht besser ohne dich
May 1 2009
Das Manifest des Mäusekönigs
Christoph Dold
Christoph Dold
Ruhig und friedlich warfen die beiden Monde ihr sanftes Licht auf Schnupperland und legten einen milchigen Glanz auf die Gassen von Kaasstadt. Der Fluss aus heißem, dampfendem Käse schlängelte sich durch die verwinkelten Häuser und verlor sich in der Dunkelheit des Emmentals. In einigen wenigen Häusern brannten noch Kerzen.
„Was denken sich meine lieben Untertanen wohl? Sind sie glücklich und zufrieden mit mir oder wünschen sie sich insgeheim einen anderen König? Einen König, der die Probleme von Schnupperland in seine tatkräftigen, jungen Hände nimmt.“
Mortimer ging von dem großen geschwungenen Fenster seines Arbeitszimmers zur Bar und schenkte sich seinen dritten Roquefort Rouge ein.
„Wäre doch nur meine Jeannette noch bei mir…“
Nur das Glucksen der Speckwürfel, die er einen nach dem anderen in sein Glas fallen lies durchbrach die vollkommene Stille in seinem Arbeitszimmer. Der Mäusekönig musste seine morgige Rede vorbereiten, doch er wusste nicht, was er sagen sollte. Schwerfällig machte er sich auf den Weg zurück zu den leeren Blättern auf seinem Schreibtisch. Sein kunstvoll verzierter Umhang schleifte über den blanken Steinboden.
Sein Leben hatte sich verändert seit seine Gemahlin gestorben war. Immer öfter wünschte er sich, aus dem prunkvollen Schloß Camembert auszuziehen und seinen Lebensabend in seinem Landsitz bei Mausanne einzuläuten. Doch wie sollte das gehen? Sein einziger Sohn Maurice interessierte sich nicht für Amt und Würde.
Dafür umso mehr für Wein und Weib. „Ciao Bella! Immer wenn ich an Dich denke sehe ich ein riesiges, ranziges Stück Speck vor mir!“ schallte Maurices wackelige Stimme empor, gefolgt von einem entzückten Glucksen der so hoch Gelobten.
„Wochenend und Sonnenschein und dann mit Lucy ganz allein, Speckschwarten und roter Wein, so soll es für immer sein…“ In ungleichmäßigem Takt trippelten Mäusefüße die breite Treppe zum Arbeitszimmer empor. Die schwere, geschwungene Tür flog auf. „Tada. We proudly present: Maurice, the most specktacular Mäusefänger ever! Hicks. Ups.“
Maurice hatte nicht damit gerechnet, seinen Vater so spät noch im Arbeitszimmer vorzufinden. Dieser erhob sich, kam – ebenfalls wankend – auf seinen Sohn zu und baute sich vor ihm auf. Weil er damit allerdings seinen Gleichgewichtssinn überforderte, konnte er sich nur mit Hilfe seines Sohnes auf den Beinen halten, was ihm sehr missfiel. Wütend schubste er ihn von sich, senkte den Kopf und erhob seine Pfote vors Gesicht. Er fing an, im Zimmer auf und ab zu schreiten.
„Sohn! Wie kannst Du nur so gleichgültig sein? Du bist bald König von diesem Land! Wie stellst Du Dir das denn vor? In den Strassen hungern Mäuse, seit der Käsefluss privatisiert wurde, die reichen Mäuse wollen die Macht übernehmen und nichts von ihrem Reichtum abgeben, die Hälfte der Gebäude von Kaasstadt muss vor dem nächsten Vulkanausbruch saniert werden und die Kassen sind leer! Die Bewohner von Schnupperland sind unzufrieden und ziehen sich ins Private zurück, anstatt sich wie früher gegenseitig zu helfen. Ein Teufelskreis und ich mitten drin! Und Du lässt mich ganz alleine mit all diesen Problemen und nutzt Deine privilegierte Stellung, um Mäusedamen abzuschleppen und Dich bei den Wirten durch die Weinkeller zu saufen. Du bist völlig unfähig und ungeeignet, dieses Land zu regieren!“
Der König schluckte den Rest seines Roquefort Rouge auf einmal hinunter, drehte seinem Sohn den Rücken zu und sank langsam in den Ohrensessel am großen Fenster. Einmal komplett rausgelassen verlor die Wut auf seinen Sohn an Bedeutung und er besann sich. Sein Blick schweifte über die Stadt.
„Ist das denn wirklich alles, was Dich interessiert? Und geht’s Dir wirklich gut so? Ich wünsche mir doch nur, dass Du glücklich bist und dass Du einen Sinn für Dein Leben findest. Selbst wenn es nicht das Regieren ist. Ich will ja auch nicht mehr regieren.“ Ein tiefer Seufzer beendete den Redefluss des Königs, von dem nun nur noch ein gleichmäßiges Schnarchen zu hören war. Der Roquefort Rouge verhalf ihm zu einem tiefen, ruhigen Schlaf.
„Hicks!“ Maurice stand immer noch an der Tür. Er hatte Mitleid mit seinem Vater. Gleichzeitig war er wütend. „Von wegen unfähig und ungeeignet! Hicks! Das werden wir ja sehen… Was hat er gesagt? Hunger, Ungleichheit, Häuser sanieren, leere Kassen und zu wenige Partys. Da wird sich doch was machen lassen.“
Er ging zu seinem Vater und nahm ihm liebevoll seinen Umhang und seine Krone ab. „Maurice, hiermit ernenne ich Dich für diese Nacht zum König. Mögest Du viel Spaß dabei haben!“ Er setzte sich die Krone auf, schwang sich den Umhang um die Schultern und ging zum Schreibtisch, natürlich nicht ohne sich auf dem Weg noch einen doppelten Roquefort Rouge eingeschenkt zu haben. Er setzte sich, nahm die Feder aus dem Tintenfass und begann zu schreiben.
Und tatsächlich, es machte ihm Spaß zu regieren. Drei Stunden lang ging er auf und ab, setzte sich und sprang begeistert auf, stand am Fenster und graulte sich konzentriert sein Kinn. Schließlich unterschrieb er seine Rede mit „Der Mäusekönig“, legte Umhang und Krone säuberlich auf den Stuhl und begab sich stolz und immer noch wankend in sein Schlafgemach. Auch er schlief tief und fest.
So kam es, dass Vater und Sohn schliefen, als die Diener am nächsten Morgen ins Arbeitszimmer kamen und vergeblich versuchten, den Mäusekönig aufzuwecken. Ratlos, was sie nun machen sollten – schließlich sollte der König in einer halben Stunde seine Rede auf dem Rathausplatz halten – fanden Sie das vorbereitete Manuskript auf dem Schreibtisch. Sie beschlossen, den König schlafen zu lassen und die Rede vor dem Volke zu verlesen.
So betrat Molier, der ranghöchste und älteste Diener des Königs die Holzbühne. Das Volk war gespannt. Es war lange her, dass Schnupperland in einer solch existenziellen Krise steckte. Als Molier sich räusperte verklang auch das letzte Wispern und es wurde mucksmäuschenstill in Kaasstadt.
„Liebe Bewohner von Kaasstadt, der König hat so aufopferungsvoll an einer Lösung für unsere Situation gearbeitet, dass er nun zu erschöpft ist, um persönlich sprechen zu können. Allerdings habe ich seine Ausführungen bei mir und werde nun die weisen Worte unseres geliebten Monarchen verlesen:
Höhöm.
Liebe Mäuse, liebe bezaubernden Mäusedamen.
Wie ihr wisst, ist das ja alles gerade ein bisschen kompliziert. Es läuft halt irgendwie gerade nicht so. Also, jetzt passt mal auf. Ich weiß nämlich, was wir machen. Ich bin nämlich gar nicht unfähig und ungeeignet.
So, also das mit dem Käsefluss ist ja echt ne Sauerei. Wir konnten ja nicht wissen, dass der Eigentümer auf einmal Geld für den Käse verlangen würde. Ja und jetzt ist die Kakke am dampfen. Also ab jetzt darf wieder jeder soviel Käse aus dem Fluss fressen bis er satt ist. Wenn das einer verbieten will dann schickt ihn zu mir, dem werd ich was erzählen. Das ist jetzt Gesetz.
Ach ja, noch was… Damit so was nie wieder passiert: Jeden ersten Samstag im Monat müssen alle ihre Haustüren aufsperren und alle Mäuse, die rein wollen, reinlassen. Wer dann der Meinung ist, dass jemand anders was besser brauchen kann als der Besitzer, darfs mitnehmen. Wer irgendwelches unnützes Zeug findet, das nicht zum Leben notwendig ist, nimmts auch mit.
Am Abend wird dann eine große Party gefeiert. Da wird dann alles neu verteilt und was übrig bleibt wird in der Mitte verbrannt.
Das mit den Häusern: Jeder ist ab jetzt verpflichtet, wenn er nicht gerade feiert, musiziert, isst, oder ein Rendezvous hat, seinem Nachbarn bei der Sanierung zu helfen. Dass jemand irgendwas arbeiten muss ist ab jetzt keine Ausrede mehr. Die ganzen Diener vom Schloss helfen auch mit. Morgen geht’s los. Am Ende helft ihr mir dafür beim Schloss. Is ja ein riesen Ding. Dafür dürfen dann alle, die kein zu Hause haben oder denen es zu Hause nicht gefällt bei mir im Schloss einziehen.
Sorry, ich hab einfach kein Geld, das müssen wir jetzt irgendwie zusammen auch so schaffen. War jetzt noch was? Ich glaub jetzt hamma alles, oder? Fertig, oder wie sagt man da?“
Es dauerte noch eine Weile, bis sich die Mäuse von dieser unüblichen Regierungserklärung erholt hatten und sich ein leises Gemurmel ausbreitete. Dazu muss gesagt werden, dass der Mäusekönig in Schnupperland eine so hohe Autoritätsperson ist, dass es gar nicht in Frage kommt, die Ernsthaftigkeit seiner Worte anzuzweifeln. Genau so wenig durfte ein erlassenes Gesetz missachtet werden.
Und so fingen die Mäuse tatsächlich am nächsten Morgen an, sich gegenseitig bei der Sanierung zu helfen. Sie lernten sich so besser kennen und sprachen über die komischen neuen Gesetze, erzählten sich Geschichten aus ihrem Leben und halfen einander bei allen möglichen kleinen und großen Nöten. Schon vor dem ersten Tag, an dem die Besitztümer neu verteilt werden sollten, wechselten viele Gegenstände ihre Eigentümer. Und der Tag selbst glich tatsächlich einem großen Fest. Die Mäuse trafen sich abends auf dem Rathausplatz und tunkten ihre Speckspieße in den Käsefluss. Die anwesenden Wirte öffneten ihre Weinkeller und Bauern von weiter draußen feierten mit und steuerten Obst bei. Eine Unmenge nützlicher und unnützer Gegenstände wurde in der Mitte aufgetürmt. Die armen Mäuse machten sich über die Sachen her und freuten sich, einige Dinge zu finden, die sie so dringend benötigten. Als alle zufrieden waren wurde der Berg angezündet und die Mäuse grillten ihre Speckspieße an dem riesigen Lagerfeuer.
Es gab auch einige, die waren nicht einverstanden. Vor allem waren es die Mäuse, die sich schwer von ihren Dingen trennen konnten und die viel Wert auf ihr Ansehen legten. Sie zogen zum Schloss, beschimpften den König und drohten mit Gewalt. Doch der König ließ sie eintreten, versorgte sie und ließ sie den Tag mit den Heimatlosen Mäusen verbringen, die ja nun alle im Schloss wohnten. Darüber vergaßen die reichen Mäuse ihre komischen Probleme. Einmal in der Woche gab es dann ein großes Fest im Schloss, zu dem die früher Reichen und die armen Bewohner des Schlosses eingeladen waren. Diejenigen, denen der Verlust ihres Hab und Guts am meisten wehgetan hatte, durften neben dem König sitzen. So sollten sie wieder was bekommen, worauf sie stolz sein konnten.
Und so regierten Vater und Sohn gemeinsam noch lange weiter und es bereitete ihnen beiden große Freude.
Christoph Dold, April 2009
Apr 29 2009
die elster
enzo cage
Irgend etwas hatte E aus dem Schlaf gerissen und wie so oft war er dann mechanisch durch die Nacht gelaufen, immer die selbe Strecke, immer mit der selben inneren Unruhe. Orientierunglos aus Gedanken hochschreckend blieb er abrupt stehen. Er stand vor einem Burgtor, was ihn erschreckte, denn er war sich nicht bewusst gewesen, dass eine Burg in seiner unmittelbaren Nachbarschaft existierte. Alles war Menschenleer und das weit offen stehende Tor unbewacht. Der Himmel über ihm war kalt und sternenklar und obgleich er äußerlich sicher wirkte, zögerte er innerlich. War es eine seine inneren Stimmen gewesen, die ihn gerufen und hierher geführt hatte? Oder war es die zermürbende Unsicherheit gewesen, die seit jeher an ihm zerrte? Zweifelsohne war er angekommen, stand dem schweren Tor exakt zugewendet und verharrte regungslos. Und ohne einen initialen Gedanken, ohne jeden Anlass, kippte er ganz leicht nach vorne, hob einen Fuß und wie ein langsam und in absoluter Windstille fallender Flaum durchschritt E das Tor, das sich lautlos und geschmeidig hinter ihm schloss. Das innere der Burg war nur spärlich mit qualmenden Petroleumlampen beleuchtet und seine Schritte auf hartem Boden wurden vom Mauerwerk hin und her geworfen. Mehr durch etwas an gesogen, als durch eigenen Antrieb, bewegte er sich durch ein labyrinthtisches Gewimmel von Sälen und Gängen, bis er nach langem Herumirren in einem Ballsaal eintrat und schon aus weiter Ferne erkannte, was ihn anzog. Er schritt geradewegs auf einen mannshohen, schweren Kristallspiegel zu, der, einer Sonne ähnelnd, in der Mitte ein Oval und aussen herum, spiraliert zahlreiche, silbergefasste Strahlen zeigte. Aus seinem Zentrum schien ein komplexer Ton, gleich einem Chor, heraus zu dringen, der vom Wesen her rührend rein und schön war. Als E sich bis auf ein paar Schritte genähert hatte und sein Bild den Spiegel vom Scheitel bis zur Sole ausfüllte, blieb er stehen. Die ihm entgegenquellende Wolke aus weichem Klang umschmeichelte ihn wie eine flauschige Decke. E blickte regungslos in sein eigenes, fahles Gesicht, seine Schritte verhallten und die Welt erstarrte. Nur noch sein Brustkorb hob und senkte sich im Einklang mit dem atmenden Chor. Lange stand er so da. So lange bis seine Wahrnehmung zusammen schmolz und er gleichsam Blind und Taub zu taumeln begann, als plötzlich eine Stimme zu ihm sprach. Eine unbekannte innere Stimme, glasklar, ihm irgendwie bekannt vorkommend, weiblich, vertrauenserweckend und warm. „Alles wird gut! Du bist nicht verurteilt. Das sind alles nur Phantasien und Wahnvorstellungen von Dir. Die Bedrohung ist nicht real! Du bist nicht verurteilt!“ Eine lange Stille folgte, bis E bemerkte, dass er mit aufgerissenen Augen da stand, ohne etwas zu sehen. Er konnte nicht einmal feststellen, ob es hell oder dunkel war. Und erst als sein Kopf einen kleinen, seitlichen Ruck machte, kehrte das Bild zurück und er stand wieder vor dem Sonnenspiegel, nur deutlich näher als vorher, so dass sein durch den Schrecken anschwellender Atem am Glas des Spiegels kondensierte und er aus einem Gefühl der Bedrängnis heraus rückwärts schreitend Abstand nahm. Der Spiegel hatte jede Anziehungskraft verloren. E sah über seine Schulter, drehte sich im gehen um und lief weiter, hallenden Schrittes weg vom Spiegel, egal wohin, nur einfach weg. In dem Gewirr aus leeren Gängen, Räumen und Sälen lief er scheinbar willkürlich herum, obgleich er bei jeder Abzweigung eine eindeutige Präferenz für den einen oder eben anderen Weg hatte. Ohne zu wissen wohin er lief, war er sich sicher den Weg zu kennen. Irgendetwas führte ihn. Seine Gedanken kreisten dabei um das, was er vor dem Spiegel vernommen hatte. Er war verwirrt. Suggerierte ihm die Stimme doch, dass er sich als verurteilt wahrnahm, was nicht der Fall war. Im Gegenteil, er suchte lange und angestrengt nach Erinnerungen von Situationen, in denen er einmal als verurteilt hätte gelten können, doch nichts… er wurde nicht fündig. Er war nie verurteilt worden, von niemandem. Und falls doch, so hatte er zumindest keine Erinnerung daran. Was ihn aber noch mehr verunsicherte war das Gefühl, die beruhigenden Worte der Stimme dankend annehmen zu wollen, ja annehmen zu müssen. Wie konnte er etwas annehmen, das Voraussetzungen beinhaltete, die gar nicht zu trafen? Wie konnte er sich beruhigen lassen, wo jeder Anlass einer Beunruhigung fehlte? Er war weder verurteilt, noch fühlte er sich danach! Und er hatte auch keine Wahnvorstellungen diesbezüglich. Eine Verurteilung findet statt, wenn ein soziales Gebilde ihren Konsens über die Missbilligung einer Handlung eines ihm zugehörigen Individuum kommuniziert. E war ein zurückgezogener Mensch, der ein ruhiges Leben in Tolleranz und Distanz zu seinen Mitmenschen führte. Konflikte gab es so gut wie nie. Doch jetzt, nachdem der Spiegel ihm deutlich und glaubhaft vermittelt hatte, dass er nichts zu befürchten hatte, weil er gar nicht verurteilt sei, fiel ihm ein Stein vom Herzen. Er war wie befreit von einer Last, die ihn schon lange zu erdrücken drohte. Die Erleichterung ist real, dachte E, schnellen Schrittes und riss gerade noch rechtzeitig die Hände hoch, um nicht ungedämpft gegen sich selbst zu prallen. Erschrocken und laut atmend blickte er in seine eigenen Augen. Er stand verdoppelt im Zentrum eines gewaltigen, kreisrunden Saales mit ausgekleidet schwerem, marmornem Ornament, der in seiner Mitte von einem perfekten Spiegel halbiert wurde, so dass die verblüffend glaubhafte Illusion entstand, E stünde in einem runden Saal seinem eigenen Doppelgänger gegenüber. Ein tiefes Brummen lag wie Nebel am Boden. Er verstand sofort, dass der Raum in Wirklichkeit nur halbrund war und erst der nahtlose, vom Boden bis zur Decke reichende Spiegel den Eindruck eines kreisrunden Raumes erzeugte. Doch wenn er die Nahtstelle suchte, an der Spiegel und Parkett aufeinander traten, um die Illusion zu entzaubern, wurde er nicht fündig. Der Spiegel war perfekt und widererwartend lauwarm. Dazu unnatürlich glatt, so als erzeuge er bei Berührung keinerlei Reibung. So ein Material hatte E noch niemals befühlt. Es dauerte eine Weile bis er seiner eigenen Wahrnehmung vertraute und glaubte was er fühlte. Als er mit seinen Fingerkuppen die Kante zwischen Spiegel und Boden nachfuhr, wurde ihm Schwindlig. Ihm war, als würde er visuell etwas bedrohliches fixieren, dass er auch mit faustgeballter Konzentration nicht identifiziert bekam. Als würde dessen Wesen sich dem schmalen Spektrum seiner verfügbaren Kategorisierungsmöglichkeiten entziehen. Wie ein Etwas aus einer fremdartigen Welt, das in Raum und Zeit versetzt, Zeuge eines unerwünschten Beobachters wird und sich nicht zu erkennen gibt. E trat zurück. Er hob die Hände, spreizte die Finger und betrachtete seine Handflächen. Dann führte er die beiden Zeigefinger exakt zusammen, so dass ein Fingerabdruck dem anderen präzise auflag. So neigte er den Kopf und glitt zu Boden, fiel auf die Knie und presste seine gepaarten Zeigefinger mit Kraft auf das Parkett und fuhr eine gerade Linie mehrmals von ihm weg und wieder zu ihm zurück. Währenddessen fühlte er in sich hinein. Dann sprang er mit einem Satz zurück zur Spiegelwand und presste einen Zeigefinger erneut in die Kante zwischen Spiegel und Boden und bewegte den Finger an der Kante entlang hin und her. „Das gleiche Gefühl!“, flüsterte er. E war überzeugt, das was er hier berührte kein Spiegel war – er berührte sich selbst. Auf eine unerklärliche Weise war er doppelt hier und berührte seine eigene Hand. Da sagte eine Stimme „Die Elster!“. Es war die gleiche glasklare, innere Stimme, die E vor dem Sonnenspiegel gehört hatte, nur klang sie nicht mehr wohlwollend und beruhigend, sondern scharf und bestimmend! Das Brummen begann zu wabern und E schossen Bilder durch den Kopf. Lichtes Unterholz, ein Pfeil, einige Kinder, ein Vogel, ein Stein… Jetzt erinnerte er sich. Er hatte als Kind einmal Jäger und Sammler gespielt und war mit selbst gebastelten Bogen zusammen mit Kindern aus seinem Hof in den Laubwald hinter den Feldern gelaufen. Gleich bei einem der ersten Versuche traf er einen Vogel der hoch auf einem Ast saß und als dieser kreischend vor seinen Füßen zappelte, war nicht E es, der den Vogel mit einem großen Stein erlöste, er konnte es nicht, es war sein älterer Freund Sebastian gewesen, der bereits Erfahrung mit dem töten von Fischen hatte. Und obwohl ihn Damals niemand dafür zur Rechenschaft gezogen hatte, Kinder vergessen schnell, blieb das schreckliche Gefühl dieses Moments doch in seinen Knochen stecken und wuchs über die Jahre zu seinem ständigen Begleiter, der ihn hart und unruhig werden ließ. „Danke!“ flüsterte E impulsiv, ohne zu wissen, wie er das meinte, oder mit wem er redete und legte sich erschöpft auf die Seite und hörte dem Brummen zu, dass in Wellen von den Wänden prallte und schloss die Augen. Stunden verstrichen. Irgendwann schlief er wohl ein. Es sollte ein langer und befreiender Schlaf werden, ein Schlaf, nach dem er sich so lange gesehnt hatte.
Apr 27 2009
Der ungeteilte Raum
enzo cage
Es geschah an einem Freitagabend. Henrik befand sich auf dem Heimweg, er hatte eine anstrengende Woche im neuen Büro überstanden und wollte nur noch schnell ein paar Besorgungen machen, als ihm in einem Einkaufszentrum ein kleiner, Strohblonder junge in den Weg trat und ihn abrupt zum stehen brachte. Mit ernster Miene streckte der Kleine Henrik seine Hand entgegen und sagte mit großer Entschlossenheit „mitkommen!“. Henrik griff ohne zu zögern die Hand des kleinen, der fest zupackte und ihn im Laufschritt durch die Menschenmenge zerrte. Henrik war so verdutzt von der Kraft, die von dem kleinen Jungen ausging, und so beschäftigt damit, gebückt wie er lief, niemanden um zu rämpeln, dass er bevor er auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte, schon durch ein paar Türen auf einen merkwürdig geformten Spiegel zu lief, der ihn je näher er ihm kam umso stärker an sog, so dass er mit ganzer Kraft hinein sprang. Doch statt dem erwarteten, schmerzhaften Aufschlag spaltete sich die Welt in ihre Einzelteile, sein Körper und alles um ihn zerbarst zu weißem Pulver, das scheinbar magnetisch, sich in Bruchteilen von Sekunden zu einer neuen Ordnung zusammensetzte. Es war der blitzschnelle Übergang zweier universeller Ordnungen und jedes Staubkörnchen schien seinen Platz zu kennen, schien zielstrebig um sich herum kraftvoll Struktur zu schaffen, um auf unfassbar elegante Art und Weise aus unendlichem Chaos, kristalline Symmetrie und vollendete Schönheit zu zaubern. Und als wäre nichts gewesen, fand sich Henrik plötzlich in einer gigantischen Halle wieder. Das verrückte war, dass er in vollem Bewusstsein, was soeben geschehen war, das Gefühl hatte, sich hier ganz und gar eingelebt zu haben. Als wäre hier sein zu Hause, seine Heimat, dieser Moment völlig normal und als wäre alles, was ihn ausmacht an seinem Platz.
Gemütlich sitzend, sah er sich um. Stühle. Überall dieselben Stühle. Die Halle reichte bis über den Horizont. Die Decke, falls das eine Decke war, lag Kilometer hoch. Vor ihm stand eine Art Sägewerk und nebenan lag ein Waldrand. Es duftete nach frischem Holz. Überall liefen geschäftige Leute herum, die aussahen wie Baumarktmitarbeiter, mit praktischen Latzhosen. Henrik fühlte sich wunderbar. Hier war es hell und gemütlich. Seine Hand befühlte das weiche Holz seiner Stuhllehne. Er saß bequem und sicher auf einem der Millionen Stühle, die hier offensichtlich gefertigt wurden. Er musste sich in einer futuristischen Fabrikhalle befinden, mutmaßte er. Da kam auch schon einer der Mitarbeiter auf ihn zu, reichte Henrik auf eine sonderbare Art die Hand, die ihn dazu brachte aus seiner ungemein bequemen Sitzhaltung aufzustehen. Der Mitarbeiter rückte seinen Helm zurecht, wischte sich eine Schweißperle von der Stirn und wirkte freundlich und hilfsbereit.
Ob man denn etwas bräuchte? Das sei ja schon etwas eigenartig. Ob es einem gut gehe? Man könnte problemlos einen Arbeitsanzug besorgen. Nein, das würde gar keine Umstände machen.
Und dann kamen sie auch schon von allen Seiten auf Henrik zu und halfen ihm in seinen neuen Arbeitsanzug, erklärten ihm geduldig wie seine Ausrüstung funktionierte, führten ihn durch seinen Arbeitsplatz, zeigten ihm sein Bett, die Kantine und die Toiletten. Es waren keine drei Stunden vergangen, als sich Henrik dabei zusah, wie er an einer komplizierten Maschine mit wenigen Handgriffen in Windeseile einen Stuhl nach dem anderen fertigte, die sein Kollege Herrmann, auf Lastwagen lud. Hier war also sein Platz. Das begriff er sofort. Und es gab daran auch nicht den geringsten Zweifel. Das Essen war gut, er schlief gut und viel, arbeitete den ganzen Tag und wurde getragen aus einer Wolke aus purer Nützlichkeit. Hier machte alles Sinn. Jeder kannte seinen Platz. Jeder Handgriff saß. Keiner beschwerte sich. Und vor allem… all diese wunderbaren Stühle! Ja, es machte ein gutes Gefühl produktiv, eingebunden und aufgehoben zu sein. Und Henrik war sich absolut sicher, hier, glücklich und zufrieden den Rest seines Lebens zu verbringen, als er eines Nachts aufwachte und sich seine Gedanken immerzu um das gleiche Wort drehten. „Entsorgungspresse“. Dieses Wort machte irgendwie keinen Sinn. Er hatte es schon oft gehört. Immer wieder erwähnten Kollegen von ihm diese Entsorgungspresse, doch er konnte sie sich nicht vorstellen. Was wurde entsorgt? Was wurde gepresst? Und als er am nächsten Morgen seinem Vorgesetzten vertrauensvoll sein Herz ausschüttete, wurde er natürlich sofort dorthin versetzt. Zur Presse. Man müsse lieben was man tue und jeder solle sich selbst finden und dort einbringen, wo er der Gemeinschaft höchsten Nutzen bringe. Das leuchtete Henrik ein. Die Fahrt dauerte keine zwanzig Minuten und die Einweisung in seine neue Arbeit ging ähnlich schnell wie beim ersten Mal und bestand darin, Stühle, die von einem Lastwagen angeliefert wurden entgegenzunehmen und in eine Pressvorrichtung zu geben. Daraus würde Humus gemacht, der dem Waldboden untergemischt werden würde.
Aber als er einen Kollegen entrüstet befragte, welchen Sinn es machte Stühle erst mühsam herzustellen, um sie anschließend zu Humus zu verarbeiten, nahm ihn plötzlich ein kleiner, Strohblonder Junge bei der Hand, und führte ihn bestimmt durch ein paar Türen in einen Raum mit einem merkwürdig geformten Spiegel, der ihn unwiderstehlich anzog. Zwei universelle Ordnungen gingen blitzschnell ineinander über.
Sekunden später fand sich Henrik in einem langen Gang wieder. Lang war eigentlich untertrieben, dessen Ende schien sich in der Unendlichkeit zu verlieren. Alles war in dunkelrotes Licht getaucht, die Wände waren mit Plüsch überzogen und alle paar Meter gab es Türen, auf denen fremdartiges Symbolwirrwarr heftete. Hin und wieder öffnete sich eine der Türen und junge Leute, die nur mit einem Handtuch bekleidet waren, als kämen sie gerade aus der Sauna, liefen ein Stück, um hinter einer anderen Türe zu verschwinden. Henrik war das unheimlich. Er lief eine Weile und kam an eine Kreuzung, an der zwei dieser unendlich langen Plüschgänge aufeinander trafen. Er bog ab und lief ein paar Stunden ziellos herum. Jede siebzehnte Türe hob sich farblich von den anderen ab. Keiner der seltsamen Saunabesucher sprach ihn an. Und obwohl Henrik keinerlei Bedürfnis verspürte durch eine der Türen zu gehen, befremdliche Geräusche schienen daraus zu dringen, gab er sich einen Ruck, öffnete eine und sah hinein. Darin hatten gerade zwei Saunabesucher Sex. Peinlich berührt schloss er leise die Türe und irrte weiter durch die Gänge. Ab und zu öffnete er wieder eine der Türen und fand überall das gleiche Bild. In allen Räumen hatten Saunabesucher lautstarken Sex. Nur nicht in den Räumen hinter den siebzehnten Türen. Die waren etwas größer und es standen Podeste darin, wie man sie bei Siegerehrungen bei Olympiaden verwendet. Dort ließ er sich eine Weile nieder und schlief ein. Geweckt wurde er von einem abrupten Ansturm von Saunabesuchern, die förmlich den Saal fluteten und alle versammelt, in einem bizarren Ritual offenbar eine Art Siegerehrung des potentesten Pärchens vollzogen, die kreischend eine Glaskugel überreicht bekamen und sich anschließend vor jubelnder Menge gegenseitig ihre Geschlechtsteile mit Leuchtfarbe einrieben. Dann ertönte ein Geräusch, was Henrik an den Gong aus seiner Volksschule erinnerte und der Saal leerte sich so schnell, wie er sich gefüllt hatte und ein Strohblonder Junge streckte ihm seine Hand entgegen.
Zwei universelle Ordnungen gingen blitzschnell ineinander über und Henrik fand sich wieder in einer unendlichen Krankenhauswelt, in der alle Menschen zugleich weiß uniformierte Ärzte als auch Hypochonder waren. Viele davon befanden sich paarweise eingesperrt in mobilen Gondeln, der Therapeut saß, der Patient lag und auf Knopfdruck konnten sie ihre Rollen und Körperhaltungen austauschen, so dass sie sich bis in alle Ewigkeit in einem Ping-Pong-Verfahren wechselseitig therapierten. Und als einer von Henriks Patienten während eines Hirnchirurgischen Eingriffs aus der Narkose aufwachte, einfach so aufstand und ihn mit Nachdruck aufforderte sich seine Schädeldecke aufzusägen, griff ein kleiner Junge nach seiner Hand und zwei Ordnungen gingen blitzartig ineinander über und Henrik war auf einmal der weiseste aller Affen, die im Kreis sitzend auf den fortschrittlichsten aller Supercomputer einredeten, um ihn davon zu Überzeugen, innerhalb eines zweiten, baugleichen Supercomputers, ein Pan-Intelligentes Wesen frei zu schalten, dass nicht nur die letzten Probleme der Welt lösen sollte, sondern auch diese ungenügende Welt schlagartig auf eine Metaebene transformieren werde, um endlich und endgültig die Primitivität von biologischen Intelligenzen zu überwinden und mit einem sauberen Neuanfang Punkte im innergalaktischen Ranking zu sammeln, um der unausweichlichen Vernichtung doch noch auszuweichen.
Billionen… einfach alle Augenpaare der Welt, waren mittels Fernsehübertragung auf den Kreis der Affen gerichtet und alle Affenaugenpaare waren wiederum auf Henrik gerichtet. Henrik zitterte. Die Nerven zerfetzende Stille war unerträglich, seine innere Spannung mehr als schmerzhaft. Es lag nun in seiner Verantwortung alles, die Welt und sich selbst zu beenden, um etwas neuem, höherem Platz zu machen und er wusste er würde es tun. Er war der einzige, der das konnte. Und als er mit einem resignierenden Senken des Kopfes, das alles in Gang setzende und absolut irreversible Zeichen zur Machtübergabe gab, wurde Henriks Welt durch und durch leer und schwarz. Nur ein kleiner, Strohblonder Junge schwebte noch über ihm und sprach: „Versuche nicht den Raum zu teilen und lebe alles was du bist. Wer Du bist, weißt du selbst am besten. Und wenn wieder jemand zu dir kommt, um dich für deinen nützlichsten Teil von deinem Rest zu trennen sage ihm…“
Zwei Ordnungen gingen blitzartig ineinander über, es wurde hell und Henrik sagte: „Neee, lass ma’… iss mir jetzt nich’ nach!“
Und der fremde Mann im schmutzigen Fellumhang runzelte die Stirne, grunzte verächtlich und lief zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Henrik saß vergnügt, zusammen mit seiner Sippe am Lagerfeuer und grillte sich ein schönes Stück des Hirschen, den die Männer heute mit viel Mühe mit Speeren erlegt, transportiert und Feuersteinen zerlegt hatten. Die Frauen sangen und hatten einen großen Topf Beeren gebracht und die Kinder jauchzten und tollten am Fluss.
Es wurde Herbst und Henrik hatte sich noch niemals in seinem Leben so echt gefühlt. Es war ein einfaches Leben. Ein Leben, in dem Hunger und Durst, Sonne und Kälte und vor allem die Gemeinschaft den Ton angab. Zum ersten Mal war er ganz im Reinen mit sich und der Welt.
Manchmal dachte er noch an sein altes Leben im neuen Büro. Doch zurück wollte er auf keinen Fall und aus wahrscheinlich diesem Grund sah er den Strohblonden Jungen auch nie wieder.
Die Ordnung der Welt hatte sich gefunden.
Mar 25 2009
Das Leben des Gewotzbraunfuz
christoph
Es war einmal ein grüner Gewotzbraunfuz. Dem war so schrecklich langweilig, daß er den ganzen Tag nichts anderes tat als nichts. Aber dadurch wurde es auch nicht besser. Voller Verzweiflung in seinem Würzel dachte er sich nichts. Als er glaubte, damit fertig zu sein, ging es ihm soviel besser, daß es gar nicht der Rede wert war. Gewotzbraunfuz lehnte sich also zurück und blickte aus dem Fenster. Doch er sah dort nichts. Er sah immer nichts, wenn er aus dem Fenster guckte. Er bezeichnete es zumindest als nichts, obwohl es genaugenommen Dreck war, was er nicht sah. Doch der ihn umgebende Dreck war für ihn so normal geworden, daß seine Augen aus lauter Langeweile aufgehört hatten, Dreck wahrzunehmen. So war er unfähig geworden, die Schönheit des Drecklochs, in dem er schon seit 257 Götzfransen hauste, wahrzunehmen. Doch selbst wenn er die Fähigkeit gehabt hätte, hätte er nichts Schönes gesehen. Insofern war es sehr vorteilhaft, daß er seit 187 Götzfransen in völliger Dunkelheit lebte. Damals hatten die anderen Broderfrösel das letzte Loch nach draußen, durch das zumindest zwei Hurzfunzel am Tag ein Sonnenstrahl in seine Dreckshöhle eingedrungen war, aus unbegründeter Bosheit heraus zugeschüttet. Aber das war noch das schönste Ereignis, an das sich Gewotzbraunfuz zurückerinnern konnte. Schließlich hatte es nicht wie alle anderen unmittelbare körperliche Schmerzen zur Folge.
Seit 163 Götzfransen stand Gewotzbraunfuz nun am selben Platz. Zuerst tat er dies freiwillig, weil es keine Bewegung gegeben hatte, die in seinem Drecksloch irgendeinen Sinn gehabt hätte. Schließlich hatte er vergessen, wie man sich bewegt und seit 142 Götzfransen wußte er nicht einmal mehr, was Bewegung überhaupt ist. Genaugenommen wäre ihm das egal gewesen, wenn er einen Gedanken daran verschwendet hätte, doch es interessierte ihn nicht. Schließlich gab es in seiner Lage keinen Gedanken, der nicht verschwendet gewesen wäre, und selbst dieser Gedanke kam Gewotzbraunfuz total überflüssig vor, so daß er lieber nicht mehr daran dachte.
Manchmal wollte Gewotzbraunfuz etwas schlafen, damit er nichts verpaßte. Doch das konnte er nicht, weil er leider im Stehen vergessen hatte, was Bewegung ist und Broderfrösel nicht im Stehen schlafen können. So litt Gewotzbraunfuz ständig darunter, daß er nicht einschlafen konnte. Und weil es eine eiserne Regel bei Broderfröseln ist, daß sie vor dem schlafen immer einschlafen, schlief also Gewotzbraunfuz auch nicht. Doch wenn er nicht gerade fürchterliche Kopfschmerzen aufgrund seiner Schlaflosigkeit hatte, dachte er nicht daran. Weil die Kopfschmerzen allerdings spätestens nach 120 schlaflosen Götzfransen unerträglich werden, konnte sich Gewotzbraunfuz nicht mehr daran erinnern, nicht an seine Kopfschmerzen denken zu müssen. Die Kopfschmerzen waren eigentlich das einzig aufregende im Leben des Gewotzbraunfuz, weil sie mit jedem Tag schlimmer wurden und er sich somit nicht daran gewöhnen konnte. Vermutlich hätte er ohne diese grausamen Schmerzen schon vergessen, daß er noch lebt.
Und wenn er es nicht doch irgendwann vergißt, dann registriert er noch heute, dass er lebt.
geschrieben ca. 2001
Mar 25 2009
geht´s noch?
christoph
Der Traum ist zu Ende. Hier sitz ich nun hinter dem dritten Fenster von links im 11. Stock des O2-Hochhauses. Dieses Haus verkörpert die Stadt, in der es steht. Zu viele Menschen arbeiten jeden Tag zu viel, damit andere Menschen zu viel telefonieren. Kommunikation… So ein Wort, das gut klingt, weil der Werbeheini, der es sagt stets supergut aussieht und alleine mit sseiner tiefen, vertrauenswürdigen Stimme jeden Frauenkörper zur Wallung bringt. Sex sells. München ist Sex. Billiger Sex. Sex auf dem Werbeplakat, sex beim Einkaufen in der Fußgängerzone, Sex mit den nackten Beinen unter den kurzen Röcken. Dauersex ohne Orgasmus.
Der Traum ist zu Ende. Hier sitz ich nun hinter dem dritten Fenster von links im 11. Stock des O2-Hochhauses. Dieses Haus verkörpert die Stadt, in der es steht. Zu viele Menschen arbeiten jeden Tag zu viel, damit andere Menschen zu viel telefonieren. Kommunikation… So ein Wort, das gut klingt, weil der Werbeheini, der es sagt stets supergut aussieht und alleine mit sseiner tiefen, vertrauenswürdigen Stimme jeden Frauenkörper zur Wallung bringt. Sex sells. München ist Sex. Billiger Sex. Sex auf dem Werbeplakat, sex beim Einkaufen in der Fußgängerzone, Sex mit den nackten Beinen unter den kurzen Röcken. Dauersex ohne Orgasmus.
Was hat mich nur hierher gebracht?
Ein Eck vom Olympiapark. Ach ja, es gibt Bäume. Woanders sogar mehr. Da, wo es auch Platz gibt. und Ruhe. Ich hab die Schnauze so voll…
Wissen Sie, was am Schlimmsten ist? Von meinem Schlafzimmer aus sehe ich den O2-Tower nachts. Und er blinkt! Er blinkt mich an. Er morst mir zu: Niemals wirst Du mir entkommen! Niemals wirst Du der Großstadt entkommen!
[15-Minuten Assoziations-Schreiben zum Begriff "Großstadt"]
Feb 20 2009
Bernd – Session 12
enzo cage
Ahmed ( Speed Writing )
„Kaiser Konstantin isst keinen Reis!“, erklärte der Hofnarr dem kleinen Mann, der mit seinem Sack voll des Getreides vor der Palasttür stand und verlegen mit den Füßen im Treibsand scharrte.
„Moment mal“, erwiderte dieser. „Ich bin Ahmed der Reislieferant von Kaisers Gnaden, und wenn der Kaiser keinen Reis mehr will, dann muss er mir das ja wohl mitteilen. Ich habe 7 Söhne und 23 Töchter, die sich tagein tagaus die Finger wund scheuern beim Reis Pflücken auf den Feldern!“
Er stockte und blickte auf seine Füße. „Moment mal!“, rief er empört. „Ich stehe hier ja im Treibsand! Wieso ist hier Treibsand vor der Palastpforte, und außerdem: Welcher Idiot kippt denn hier Treibsand hin? Das ist ja gefährlich.“
Der Hofnarr schloss die Augen und fragte verträumt: „Gut, oder? Das war meine Idee, neue Verteidigungsstrategie, wenn mal wieder ein gemeiner Meuchelmörder kommt, um den Kaiser zu meucheln. Der kommt dann gar nicht in den Palast. Und warum? Richtig: Treibsand.“
Der Hofnarr öffnete stolz die Augen, um Ahmeds anerkennenden Blick für eine brillante Idee zu ernten, aber dessen Augen waren bereits mit dem Rest von Ahmed im Sand versunken.
Nach 2 Minuten akutem Erstickungsanfall fühlte Ahmed plötzlich, dass er wieder atmen konnte und gleichzeitig fiel. Dann schlug er hart auf dem Boden des Palastkellers auf. Nach einer kurzen Pause erhob er sich und blickte sich um. So weit das Auge reichte, erkannte er Reisberge. Zufrieden leerte er seinen Sack über den größten Haufen aus und machte sich auf die Suche nach dem Ausgang. Dieser Hofnarr würde ihm sein Geschäft nicht kaputt machen, so viel war sicher. Der hatte doch keine Ahnung vom Reisgewerbe.
Feb 20 2009
Christophs gesammelte Werke
christoph
Der Beginn einer Geschichte
War das ein Traum?
Wie eingefroren stand ich im Hof der Werkstatt von Herrn Gabriel. Mein Hobel ruhte in der Mitte der aufgebockten Diele, die ich gerade noch bearbeitet hatte. Obwohl die Kinder eine Strasse weiter immer noch spielten und die Pferdehufe aus den Gassen zu mir hoch schallten war es still. Absolut still. Mein Blick lag immer noch auf den groben Steinen der Mauer jenseits des Hofs. Doch auch die Mauer nahm ich nicht wahr.
Diese Frau, die gerade hier vorbei gelaufen war und mir – oder war das nur Einbildung – kurz zugelächelt hatte, zog einen unsichtbaren Schleier nach sich, der alles Triviale dieser Welt für ein paar wunderschöne Augenblicke verhüllte. Und während diesen kostbaren Atemzügen gab es nichts außer Schönheit und Anmut.
Ihre großen dunklen Augen verführten mich im Handumdrehen in die tiefsten Täler des Perlengebirges, der matte Schimmer darin erinnerte mich an die Gipfel im Sonnenuntergang. Ein Blick reichte, um mich völlig zu entwaffnen. Die Zeit stockte, um dann langsamer weiterzulaufen, wie wenn auch sie aus dem Rhythmus geraten wäre. Vermutlich bemerkte Sie, wie das gleichmäßige Scharren meines Hobels verklang und die fallenden Holzspäne sich um meine Füße zur Ruhe legten. Ihre dunkelbraunen Haare schwangen zur Seite, ihre vollen, geschwungenen Lippen öffneten sich und unter dem tönernen Rot erschien leuchtendes Weiß. Dieses Wesen war ein Kunstwerk. Ich kann nicht sagen, ob ich mich in diesem Moment in einer anderen Welt oder ganz bei mir befunden habe. Ich weiß nur, dass ich nirgendwo dazwischen gewesen sein kann.
Ihre Haare schwangen zurück und ich durfte noch einen Atemzug lang zusehen, wie ihr Körper sich bei jedem Schritt geschmeidig unter dem einfachen, schwarzen Leinenkleid wiegte. Dann war sie verschwunden.
Es dauerte einige Sekunden, bis meine Sinne ihren Dienst wieder aufgenommen hatten und mir zu etwas Orientierung verhalfen. Ich blickte zum klaren Himmel empor und genoss die frische Brise, die den Schweiß auf meiner Stirn kühlte und die Blätter des Ahornbaumes zum Rascheln brachte.
Langsam machte ich mich wieder an die Arbeit. Das verwundete Holz duftete nach süßem Harz, die Sonne verschwand rot glühend hinter dem Querschiff der Kirche und die Kinder sangen jetzt ein rhythmisches Lied und klatschten dazu in die Hände.
Seit ich vor zwei Wochen in Hobea angekommen war, überschlugen sich die neuen Eindrücke. So sehr ich mich zunächst gegen den Willen meines Vaters gewehrt hatte, so froh war ich jetzt, dass ich hier bei meinem Onkel leben durfte und das Schreinerhandwerk erlernte. Ich war noch nie in einem Ort mit so vielen Menschen.
Als mich der Kutscher absetzte und mir den Weg zu Herrn Gabriel wies, fühlte ich mich verlassen und neugierig zugleich. In wenigen Minuten würde ich meinen Onkel und seine Frau kennen lernen, bei denen ich die nächsten zwei Jahre verbringen würde. Ich hatte keine Ahnung, was mich dort erwartet. Ich wusste nur, dass mein Onkel ein gefragter und bekannter Schreiner war, dessen Handfertigkeit, Fleiß und Höflichkeit ihm bereits lukrative Aufträge eingebracht hatten. Auch ich merkte bald, mit welcher Liebe zum Detail Herr Gabriel arbeitete. Natürlich erwartet er das auch von mir. Doch so hoch seine Ansprüche auch sind, blieb er doch stets freundlich und geduldig, wenn er mir zeigte, wie ich das weiche Eschenholz bearbeiten muss. So lernte ich in diesen zwei Wochen so viel wie noch nie zuvor. Gestern war nun der erste Tag, an dem ich alleine im Hof der Werkstatt Dielen für einen neuen Tanzsaal des Konsuls abschliff, während Herr Gabriel die Wendeltreppe einer betuchten athener Familie fertig stellte. Als er sich am Abend meine getane Arbeit ansah, nickte er still, lächelte zufrieden ohne mich dabei anzusehen und forderte mich auf, Feierabend zu machen. Bei dem vorzüglichen Abendessen, das seine Frau gekocht hatte, unterhielten wir uns angeregt und er bestand darauf, dass ich den Nachschlag annahm, den ich aus Bescheidenheit ablehnen wollte.
mit Anna nach Ljubljana
„ Anna … Anna … Anna …“ Immer wieder dieselbe Frau, die sich in seinem Hirn höchst anzüglich von der einen Seite auf die andere wälzte. „Ich habe nur diese drei Tage in München, dann muss ich zurück nach Salzburg.“ hat sie gesagt. Und das ausgerechnet jetzt! Ausgerechnet vor dem Wochenende, an dem er als Pate zur Taufe seines Freundes Jörg eingeladen war.
„Was heißt denn da „eingeladen“? Als Taufpate „eingeladen“? Ich bin bestellt worden! Da wäre ja der Teufel los gewesen, wenn ich das abgesagt hätte! Außerdem ist Jörg damals zu meiner Diplomfeier viel zu spät erschienen und war auch noch betrunken! Ich habe jedes erdenkliche Recht, meine Mitfahrgelegenheit versehentlich zu verpassen und mir die Zeit stattdessen mit Anna zu vertreiben!“
Die Gedanken hatten sich selbständig gemacht. Gestern noch, bevor er Anna kennen gelernt hatte, hatte er sich auf die Reise nach Ljubljana gefreut, obwohl er bis vor kurzem noch keine Ahnung hatte, wo das liegt und jetzt immer noch nicht wusste, wie man diese Stadt buchstabiert. Er hatte Jörg ewig nicht mehr gesehen. Zuletzt hatten sie sich zusammen mit seiner jetzigen Frau eine Nacht hier in München um die Ohren geschlagen. Franja war wunderhübsch und hatte neben ihrer üppigen Figur und den dunklen Augen und Haaren auch noch diesen unnahbaren, fast abschätzigen Blick, der gerade Frauen aus dem Osten oft noch attraktiver erscheinen lässt.
Irgendwie wusste Festberg, dass sein störrisches Rumstehen keinen Sinn machte. Er hatte zwar weder die Fahrzeugbeschreibung noch die Nummer seines Fahrers. Jedoch hatte er sich und seine Gedanken an Anna mithilfe seiner tief ins Gesicht gezogenen Kapuze so wirksam von der schnöden, verregneten Außenwelt abgeschnitten, dass wohl niemand auf die Idee gekommen wäre, ihn zu fragen, ob er Georg Festberg sei und mit nach Ljubljana fahren wolle.
Dennoch blieb er stehen. Er wollte weiter warten, um sich nicht selbst vorwerfen zu müssen, er habe aktiv die Taufe versäumt. Gleichzeitig wollte er natürlich hier bleiben. Hier bei Anna… So würde er es einfach den höheren Mächten überlassen, gefunden oder stehen gelassen zu werden. Jawohl. Dann kann hinterher niemand behaupten, er habe etwas falsch gemacht.
„Anna…Anna…Anna…ANNA!!!“ Da war sie! Auf dem Rücksitz dieses alten VW Polo mit ausländischem Kennzeichen. Träumte er? Nein, das war Anna! Er riß sich die Kapuze vom Kopf, sprang auf die Fahrbahn und winkte dem Auto hinterher.
Sekunden später saß er neben ihr auf dem Rücksitz, hielt sie im Arm und sie lachten. Es dauerte nur eine viertel Stunde, bis sie im Internet die Telefonnummer des Fahrers herausgefunden hatte und sich einen Platz auf der Rückbank gesichert hatte. Die Überraschung war gelungen.
Speedwriting
Reizwörter: Polizist, Mäusefarm, Kettensäge
Ich spazierte durch meinen Garten. Es ist Sonntag und die Woche, die hinter mir lag, war sehr anstrengend.
Da – was war das? Ein Rascheln! Ich folgte dem Geräusch. Irgendwas sagte mir, dass es wichtig ist…
„Heinrich, was machst Du da?“ rief Hermine, meine Frau, die mich geliebt hat seit dem Tag an dem ich Polizist geworden bin. Doch meine Antwort verhallte unhörbar im Laub, das in meinem Mund war, als ich Kopf voraus durchs Gebüsch kroch.
Ich zog meine Waffe und wunderte mich kurz über mein eigenes Verhalten. Doch es gibt Momente im Leben eines Mannes, in denen er handeln muss. Und irgend etwas sagte mir, dass dieser Moment ein solcher war.
Ich hielt inne und konzentrierte mich. Meine Augen scannten das Unterholz. Sie fokussierten sich auf einen verdächtigen Flecken Moos. Ein Wurm! Er kroch weiter ins Unterholz als er meinen Blick auf sich spürte. Ich hechtete ihm hinterher, gerade rechtzeitig, um zu erkennen, dass es kein Wurm, sondern ein Schwanz war, der gerade im Erdboden verschwand. Ich hechtete ihm hinterher. Der Boden gab nach und ich steckte mit dem Kopf fest. Ich öffnete die Augen.
Zu meinem Erstaunen war alles hell. Unter mir eine Mäusefarm. Die Mäuse saßen still im Kreis. Von irgendwoher kam ein grausames, leidvolles Piepen.
Da! Die Riesenmaus stieg von ihrem Thron, warf ihre Motorsäge an und grinste breit, als sie an meinem Hals ansetzte. Ich war halbwegs tot.
Feb 16 2009
startimpuls
Hedda und Mats wollten, um Ruhe zum Schreiben zu finden, auf ein Blockhaus ins norwegische Flakstad fahren. Ein überaschender Sturm hatte die Küstenstraßen schneeverweht, der Landrover war ins rutschen geraten und erst zehn Meter tiefer von einer Tanne unfreundlich gestoppt worden. Hier in der Dämmerung ohne Handyempfang festsitzend, zeigte das Thermometer lebensbedrohliche minus 26°C. Nach langem und angespannten ringen um Lösungen war Mats zu Fuß aufgebrochen, um zur nächsten stärker befahrenen Straße zu laufen und hatte versprochen, sich alle zehn Minuten via Funkgerät zu melden. Doch seit einer Stunde war die Verbindung tot, Hedda empfing nur noch Rauschen und um sich Mut zu machen hört sie mit voller Lautstärke das Waterloo Album von ABBA. Erst als die Autobatterie zur Neige ging, ihre Scheinwerferwelt langsam ausblendete und die Musik plötzlich aus ging, hörte sie dieses seltsame, rhythmische Geräusch…
Feb 16 2009
Susanne – Session 11
Susanne
Georg Festberg
Georg Festberg muss wegen einer wichtigen Angelegenheit eines alten Freundes, für die er schon lange zugesagt hatte, für 2 Tage nach Ljubljana fahren und hat sich deshalb über ein Online-Portal für eine Mitfahrgelegenheit verabredet. Der Fahrer ist Slowene und scheint die Strecke regelmäßig zu fahren. Festberg befindet sich deshalb abends kurz vor der angegebenen Zeit am Bahnhof und wartet auf die Mitfahrgelegenheit, allerdings ist der Bahnhofsvorplatz etwas unübersichtlich und Festberg ist sich unsicher, ob er an der richtigen Stelle wartet, jedenfalls kann er zur verabredeten Zeit nirgends das Fahrzeug sehen – zudem hat er es auch versäumt, sich das Modell genauer beschreiben zu lassen und er hat auch die Handynummer des Fahrers nicht aufgeschrieben. Es ist schon 10 Minuten über der Zeit und es regnet. Zudem machen sich Zweifel bei ihm bemerkbar, ob er wirklich fahren sollte, denn da ist noch Anna Palaschke…
Georg blickte wieder auf die große Bahnhofsuhr- schon viertel nach acht. Innerlich fluchend ließ er seinen Blick über den unübersichtlichen Bahnhofsvorplatz schweifen… Warum nur hatte er sich die Telefonnummer nicht notiert? Er wusste nur, dass das Auto von Sercic, dem Fahrer, rot war. Rot- was für eine bescheuere Art ein Auto zu beschreiben- es gab tausend verschiedene Rot: Rostrot, weinrot, knallrot, bourdauxrot, Orangerot, Scharlachrot, Zinnoberrot, Feuerrot, Karminrot, Purpurrot
Da, ein blutroter Ford Fiesta raste mit überhöhter Geschwindigkeit auf den Bahnhofsparkplatz. Erleichtert machte Georg einige Schritte auf das Fahrzeug zu- nur um zu bemerken, dass in dem Auto eine blonde Frau sass. Entnervt beschloss Georg noch exakt 10 Minuten zu warten. Sollte bis dahin der Fahrer nicht aufgetaucht sein, würde er sich ein Auto leihen. Oder war das vielleicht ein Wink des Schicksals und er sollte diese Reise nicht antreten? Vielleicht war es doch noch zu früh… Andererseits, er musste Peter, seinen alten Freund, treffen. Nicht dass der dächte, Georg würde in letzter Minute doch noch kneifen. Diese Blöße konnte und wollte sich Georg nicht geben. Seit dem Streit vor 7 Jahren hatten sie kein Wort mehr miteinander gewechselt, geschweige denn, sich gesehen. Beim Gedanken an das bevorstehende Treffen wurde Georg wieder nervös… War er wirklich schon bereit seinen ehemals besten Freund, der ihn und ihre Freundschaft so bitter enttäuscht hatte unter die Augen zu treten? Und vor allem: Wie würde Georg auf Anna reagieren? 7 Jahre waren eine lange Zeit, aber reichten sie auch, um Anna aus seinem Herzen zu löschen? Georg war mit Extremsituationen nicht vertraut- sein Leben war eine monotone Aneinanderreihung immer gleicher Tage. Allein dass Georg mit einer Mitfahrgelegenheit nach Ljubljana reisen würde war für ihn das Aufregenste seit er damals beim Kreuzworträtsel seiner Fernsehzeitschrift ein 5 teiliges Topfset gewonnen hatte. Aber, und diese Erkenntnis war für Georg fast erleichternd: Aufregung passte einfach nicht in sein Leben. Da wollte er, ökologisch und finanziell verantwortungsbewusst mit einer Mitfahrgelegenheit reisen und natürlich ließ ihn der Fahrer sitzen. Bestärkt in dem gefühl, dass georg sich nur auf sich selbst verlassen konnte, blickte er wieder auf die Uhr. Die 10 Minuten waren um. Also blieb nur der Autoverleih. Georg stapfte über den mittlerweile fast menschenleeren und regenassen Bahnhofsvorplatz, mühsam zog er sein kleines Roll-Köfferchen über das Kopfsteinpflaster. Am Autoverleih angekommen wurde er von einem eifrigen Angestellten bedient. „Sie wünschen?“
„Ich brauche ein Auto- von heute bis Sonntag“ sagte Georg. „Aha, also 3 Tage. Was darf es denn sein? Was sportliches? Was familientaugliches? Was rasantes? Cabriolet ? BMW ? Combi ? Offroader, Limousine… “. “Ich will einfach nur ein Auto” sagte Georg hilflos. Der Angestellte strahlte ihn mit professioneller Freundlichkeit an: „Geht es vielleicht etwas genauer, der Herr?“. Georg überlegte, er machte sich ja überhaupt nichts aus Autos. „Geben sie mir einfach das günstigste, was sie haben“. Eine Viertelstunde später versuchte sich Georg mit der Halb-Automatikschaltung des Smarts vertraut zu machen. Als er das Gefühl hatte, einigermassen Herr über Lenkung und Steuerung zu sein, bog er vom Bahnhofsvorplatz rechts in Richtung autobahn ein. 4 Stunden Fahrt lagen nun vor ihm. 4 Stunden, in denen er sich über seine Gefühle für Anna klar werden konnte.
Feb 10 2009
enzo – session 11
Georg Festberg musste wegen einer wichtigen Angelegenheit eines alten Freundes, für die er schon lange zugesagt hatte, für 2 Tage nach Ljubljana fahren und hatte sich deshalb über ein Online-Portal für eine Mitfahrgelegenheit verabredet. Der Fahrer war Slowene und schien die Strecke regelmäßig zu fahren. Festberg befand sich deshalb abends kurz vor der angegebenen Zeit am Bahnhof und wartete auf die Mitfahrgelegenheit, allerdings war der Bahnhofsvorplatz etwas unübersichtlich und Festberg war sich unsicher, ob er an der richtigen Stelle wartete, jedenfalls konnte er zur verabredeten Zeit nirgends das Fahrzeug sehen – zudem hatte er es auch versäumt, sich das Modell genauer beschreiben zu lassen und er hatte auch die Handynummer des Fahrers nicht aufgeschrieben. Es war schon 10 Minuten über der Zeit und es regnete. Zudem machten sich Zweifel bei ihm bemerkbar, ob er wirklich fahren sollte, denn da war noch Anna Palaschke….
deren Leichnam er in seinem Samsonite Koffer mitführte. Er hatte Anna gern gehabt, doch hatte er schon immer Schwierigkeiten, sich an die Lebensstile seiner Lebsnabschnittsgefährten anzupassen und so kam es auch, dass er etwa ein mal pro Jahr umziehen, und sich eine neue Identität verschaffen musste. Er hatte Anna, nachdem er sie mit einem Industriekabelbinder erdrosselt hatte, mit einer Kombination aus Gefrier-, Mikrowellen-, und Vakuumtrocknung auf das Gewicht von 19,5 KG reduziert. Der menschliche Körper besteht etwa zu 70% aus Wasser und entzieht man ihm dieses schrumpelt er nicht nur zusammen wie Trockenobst, sondern verliert auch den großteil seines Gewichts. Anschließend hatte er sie in praktische Teile zersägt und einen Abend damit zugebracht, diese mit leuchtend bunten Farben anzumalen. Das hatte ästhetische, als auch praktische Gründe, denn die Farbe versiegelte die Oberflächen und verhinderte das wiedereindringen von Luftfeuchtigkeit. So blieben Anna luftig leicht. Es hatte einige Zeit in anspruch genommen, bis er eine Anordnung gefunden hatte, in der tatsächlich alle Leichenteile in seinen neuen schwarzen American Tourister von Samsonite passten. Zwischendurch hatte er schon mit dem Gedanken gespielt, sich ein noch größteres Koffermodell zuzulegen. Georg Festberg liebte Puzzlespiele und verwendete mit vorliebe Industriekabelbinder, da sich diese so komfortabel mit einem einzigen “Ratsch!” zuziehen ließen, seine Opfer vollkommen hilflos machten, und er dann nichts weiter zu tun hatte, als die zum schweigen gebrachten mit sanften Worten in den ihren Erstickungstod zu begleiten. Er war immer wieder aufs neue entzückt zu entdecken, wie wenig sich Menschen zur Wehr setzen, das sie nicht mehr in der Lage sind rational zu denken, um sich beispielsweise eine Schere zu verschaffen, um den Kabenbinder abzuschneiden. Seine Opfer sanken für gewöhnlich einfach zappelnd auf den Fußboden und verbrachten ihre restlichen zwei Minuten damit, verzweifelt an ihrem Hals herumzufummeln und ihn dabei mit weit aufgerissenen Augen anzustarren. Ach, sie starben oft so schön leise. Georg Festberg stand nun also im Regen und sah auf die Uhr. Er hatte den Plan gefasst, heute Abend Punkt 20 Uhr in Ljubljana vor der Franziskannerkirche zu stehen, um seinen Schulfreund Herrmann Zimmerer zu treffen, doch Angesichts der Unzuverlässigkeit seines Fahrers, hatte er bedenken diesen Termin halten zu können. Er stand unter einem etwas verrotteten, mit Wellblech überdachten Fahrradständer und erspähte auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Zeitschriftengeschäft, entschloss sich jedoch noch zu warten und erst später, wenn überhaupt, die neue Ausgabe von “Wohnen und Garten” zu kaufen, als er von hinten angetippt wurde. “Sie sind Festenberg? Wir hatten gesagt an der Südseite!” Georg sah über seine Schulter und quittierte den etwas zu schroffen Klang in der Stimme seines Fahres mit einem freundlichen Lächeln, drehte sich um und folgte zum Wagen.
( der kursiv geschriebene Anfang war eine Textvorgabe von Sigi )
Jan 22 2009
enzo – session 10
Die Welt steht still
Die Welt steht still! Warum steht die Welt still? Es ist nun so, dass ich hier sitze. Hier sitze ich. Und meine Beine haben sich irgendwie ineinander verheddert. Es sind wohl schon ein paar Wochen. Kaum zu glauben. Alles deutet darauf hin… ja… es muss zu viel gewesen sein – zu viel. Die Decke ist so nah, dass ich sie greifen kann. Deren Unebenheiten treten heraus wie ein Acker – Furchen, Löcher, Berge. Und ähnliche Muster finde ich auch auf mir. Es scheint, als wäre mein gesamter Körper überzogen von diesen Furchen und Löchern, Bergen und Tälern, Ecken und Kanten… oder liege ich? Liege oder sitze ich? In jedem Fall sind meine Beine verdreht. Meine linke Hand ist irgendwie angeschwollen, oder schwerer als die andere. Sie liegt da so tot – neben mir – und wenn ich versuche sie zu heben weigert sie sich. Ich kann sie nicht ansprechen. Sie liegt da einfach, unbeweglich. Im Hintergrund höre ich Teller, Messer und Löffel und Grollen, Autos, Maschinen, und meine Hand liegt da, bewegungslos. Dann stehe ich im Geiste auf, aber ich bleib´ sitzen, aber ich stehe auf und ich teile mich. Plötzlich bin ich doppelt da. Noch durchdringen sich meine Körper, einer steht, der andere liegt, oder sitzt und der stehende geht weiter… er geht zu Fenster. Er schaut sich um, sieht sich selber da liegen, oder sitzen und geht weiter zum Fenster, schaut heraus. Jetzt bin ich doppelt da, ich weiß nicht wer ich bin, bin ich er oder bin ich ich, oder sind wir ich oder was?
Eine Spannung fällt in mir ab. Es ist nicht wichtig! Es ist auch nicht wichtig wo ich hinsehe, oder was ich höre. Egal was ich fixiere, ich sehe doch immer dasselbe Bild. Selbst wenn ich den Kopf bewege und ich weiß nicht mal, ob ich aus dem Fenster sehe, oder ob ich liege oder sitze. Dann zieht mich etwas zurück. Irgendwas. Es sitzt zwischen den Schulterblättern oder tiefer. Und es zieht. Es zieht mich zurück in mich selbst. Aber ich will es nicht. Ich will es nicht und tu es nicht, bleibe so stehen. Mein Unterkiefer scheint starr – unbeweglich. Mein Mund ist trocken. Eine Eule! Dann sehe ich zur Tür und sie ist offen und zu. Der Schlüssel steckt, aber das Loch ist leer. Dahinter… dahinter ist nichts. Es ist einfach nichts. Dann sehe ich an mir runter und… ich sehe mich nicht. Ich müsste mich sehen, ich bin dich da. Doch ich sehe mich nicht. Ich sehe… nichts! Ich sitze auf nichts, ich liege auf nichts. Alles ist weg. Es ist nicht durchsichtig oder weiß, es ist, es ist nichts. Da kommt mir der Gedanke, dass ich gar nicht an mir runter sehe. Vielleicht sehe ich nichts, weil ich nicht an mir runter sehe? Vielleicht sehe ich gar nicht an mir runter? Das würde erklären, warum ich nichts – sehe. Ein Blick zurück zur Tür, die… wohl offen ist, oder zu aber dahinter ist immer noch nichts und ich suche nach etwas, ich suche nach etwas, dass ich sehen kann. Mein Blick bleibt an der Lampe hängen. Eine schöne, alte Lampe… und obwohl ich sie so genau vor mir sehe, sie steht ja auf dem Tisch dort vor mir, direkt mir gegenüber, diese Lampe, ich sehe sie, aber doch sehe ich nichts. Ich sehe nichts, wie kann das sein, dass ich eine Lampe sehe und nichts sehe? Seltsam! Was ist es? Ein Bild vom Eifelturm, ein Helm, eine kleine Maus. Mein Arm liegt immer noch schwer neben mir, immer noch unbeweglich und obwohl ich die Finder nicht mehr spüren kann, ist er doch da. Er ist da. Er ist definitiv da! Es ist mein Arm! Neben mir! Er ist nur schwer und unbeweglich, aber es ist mein Arm.
Jemand schüttet Flüssigkeit in ein Glas. Schritte auf dem Flur. Der erste Schnee. Aber er zeigt nur Rauschen – nur weißes Rauschen. Aber nicht wie sonst, nicht wie üblich, nicht wie man es kennt. Es ist langsamer. Viel langsamer! Und obwohl ich nicht hinsehe, sehe ich es doch. Und es ist wie ein Diavortrag, ein Bild nach dem anderen, es kommt… hintereinander. Sie bauen sich auf – von oben nach unten. Ganz langsam, eins nach dem anderen. Und wenn ich genau hinsehe, wenn ich genau hinsehe, dann sehe ich, dass es mehr ist als nur schwarz und weiß. Es sind viele, viele bunte Punkte, in allen Farben, in allen nur erdenklichen Farben und all diese Punkte zusammen bilden ein Rauschen und dieses Rauschen bildet ein Bild. Ständig. Es ist ständig in Bewegung. Immer neu. Ganz allein. Ganz allein!
Jetzt hab ich nicht aufgepasst. Ich bin wieder eins, ich bin nicht mehr zwei. Oder ich hab ihn verloren. Das zweite ich. Wahrscheinlich. Denke ich. Und ich glaube ich weiß jetzt auch, dass ich sitze. Ich glaube nicht, dass ich liege. Ich sitze! Ja. Und meine Hand ist schwer. Sie liegt hier neben mir. Und ich hab ja zwei. Ich hab zwei Hände. Und die andere, die die nicht schwer ist, die kann ich bewegen. Ich kann sie führen. Ich nehme sie hoch. Halte sie in der Luft – vor mir. Und dann fährt die Hand zur anderen Hand, legt sich auf sie, nimmt sie und will sie hoch heben, doch kann es nicht. Die Hand ist zu schwer. Ich brauche eine Pause. Ich muss aufhören. Ich will aufhören – zu sein? Ich will aufhören zu sein? Aber wie geht das? Wie mache ich eine Pause? Ich würde gerne aufhören. Aquarium? Wasserpflanzen! Pumpengeräusch. Pumpengeräääusch. Pumpengeräusch!. Pummmmpengeräusch. Pummmpennnngerääääusch. Pummmmpennnngerääääusch. Tock, tock, tock, tock, tock, tock! Das Bild an der Wand erinnert mich an mein Mittagessen. Und ich bedanke mich. Ich bedanke mich ehrlich – ohne Furcht! Und das Telefon steht da. Steht einfach da und klingelt nicht. Es klingelt nicht und klingelt nicht und klingelt nicht und klingelt nicht. Es steht… einfach… da. is´ unfassbar… Klingelt nicht! Dann wird es etwas kühl. Wahrscheinlich ist ein Fenster offen irgendwo. Es ist ein bisschen kühl. Oder mir ist ein bisschen kühl. Nein! Nur kühl.
Und da setzt der Wunsch ein etwas zu trinken. Ich habe Durst, ich möchte trinken. Da vor mir steht die Tasse. Sie ist sogar voll. Es ist Tee darin. Ich habe ihn mir vorhin zubereitet. Es ist mein Tee. Ich kann ihn trinken, oder, ich sollte ihn trinken denn… ich bin durstig. Doch meine Hand ist schwer und liegt da, sie kann sich nicht bewegen, ich möchte den Tee nehmen, greifen, ich möchte sie zu ihm führen. Ich möchte meine Hand heben und auf den Tee zu bewegen. Ich möchte sie bewegen! Aber sie bewegt sich nicht! Sie liegt da, und ich habe Durst. Und ich sehe den Tee. Ich sehe die Tasse. Und ich sehe meine Hand. Und meine Hand bewegt sich nicht. Sie – bleibt – liegen. Nochmal – eine Eule! Dann nehme ich die andere Hand und nehme einen Schluck. Schließt sich mein Mund! Und ich bekomme keine Luft. Ich muss atmen, durch die Nase, ich muss durch die Nase atmen! Und da sehe ich wie meine Nasenlöcher kitze-, klitzeklein sind. Wie ein Nadelöhr, gerade groß genug, dass ein bisschen Luft durch passt. Gerade genug, dass ich nicht ersticke. Und das Telefon läutet immer noch nicht. Es will einfach nicht läuten! Schweigt. Ein Männchen unter einer Glocke. Und noch ein Männchen. Der Eifelturm ist schwarz und weiß. Und er steht neben einem Spiegel. Einem Sonnenspiegel. Ich glaube ich bin gar nicht da. Ich muss keine Pause machen, denn ich bin gar nicht da! Hinter der Tür ist nichts, ich sehe mich nicht und… bzw. ich sehe sie, aber das was ich sehe ist nichts, oder sie ist nichts und hinter ihr ist nichts und alles ist nichts. Wahrscheinlich bin ich gar nicht da. Ich versuche zu denken, dass ich nicht da bin. Nicht da! Das funktioniert nicht. Irgendwie bin ich da, wenn ich denke dass ich nicht da bin. Schlafe ich? Nein! Ich schlafe nicht! Wahrscheinlich schlafe ich nicht. Jemand schüttet eine Flüssigkeit in ein Glas. Schritte auf dem Flur. Ein Aufzug. Nein, nein… ich bin da! Nur, bin ich wach? Wenn ich wach bin… dann bestimme ich. Dann hab ich die Kontrolle. Und wenn ich die Kontrolle habe, dann kann ich meine Hand bewegen. Und ich bewege meine Hand. Ich nehme sie, zeige auf mich selbst und werde klein. Ich werde klitzeklein. Ich schrumpfe und werde zu einem Zwerg, zu einem Minizwerg und ich laufe über den Fußboden und ich laufe über den Fußboden und die Teppichzotteln werden groß wie Bäume, ein Dickicht, ein Dschungel aus Fäden, aus Borsten, die immer größer werden. Ich laufe durch den Teppich und ich bin wach, denn ich habe die Kontrolle und zeige auf mich. Ich zeige auf mich, während ich durch den Teppich laufe. Und wie ich weiter schrumpfe, immer kleiner werde und um mich herum alles immer und immer größer wird, sehe ich vor mir eine riesige Milbe. Dann zeige ich auf sie und die Milbe wird klein und kleiner und kleiner und die Milbe wird kleiner und kleiner und kleiner und kleiner. Bis sie fast verschwunden ist und ich stehe wieder auf dem Teppich, bin nicht mehr darin, bin wieder groß und die Milbe ist klein. Aber ich stehe und meine Hand ist nicht mehr auf dem Sofa und liegt da nicht mehr starr. Ich bin wach – nehme einen Schluck Tee und setze mich auf das Sofa.
Jan 22 2009
susanne – session 10
Susanne
Drei Wochen vor Weihnachten und Steffi wusste nicht, wie sie diese Zeit überstehen sollte. Schon jetzt schallmeite ihr aus jedem Kaufhaus „Last Christmas“ entgegen. Sie hatte eigentlich nichts gegen Wham- aber was George und Andrew mit diesem Lied der Menschheit angetan haben, konnte nie wieder gut gemacht werden. Erklärte aber zumindest das immense Drogenproblem, mit dem George Michael alle paar Monate durch die Presse rauschte.
Steffis Laune besserte sich nicht, als sie gegen den nächsten Passanten rempelte, unwillig schüttelte sie ihren braunen Lockenkopf und frage sich zum 100x an diesem Tag, wieso sie in Gottes Namen nicht einfach alle Geschenke im Internet bestellt hatte. Aber natürlich wusste sie den Grund: Es lohnte sich einfach nicht, ein Geschenk unter 5 Euro per Mausklick zu kaufen. Und so steuerte Steffi mit schweren Schritten den nächsten Ramschladen an. Das Chaos erinnerte sie an den letzten verkaufsoffenen Sonntag bei Ikea, den sie sich angetan hatte. Hyperaktive Jugendliche, die sich gegenseitig in voller Lautstärke ihre neuen Klingeltöne vorspielten auf der einen Seite, Kinderwägen, mit kreischenden Babys, die den Weg versperrten auf der anderen. Steffi schwitzte unter ihrem schweren, grauen Wintermantel, aber weil sie gewissenhaft ihre sozialen Kontakte pflegte und in ihrer Mädelsclique das „Wichteln“ nun einmal Bestandteil der Vorweihnachtszeit war, gab es keinen Ausweg.
Insgeheim war sie ja der Meinung, dass das Wichteln total überbewertet wurde: Es war doch so: Man schenkte Mist und man bekommt Mist. In Steffis Bücherregal stapelten sich die Teelichthalter, sie konnte, wenn sie es denn gewollt hätte, jeden morgen aus einer anderen Motivtasse trinken und mit ihren Duftkerzen hätte sie Douglas Konkurrenz machen können.
Vor einigen Jahren war sie dazu übergegangen, die Tassen, Teelichthalter und Duftkerzen weiterzuverschenken. Das hatte auch gut geklappt, bis zu dem Tag, an dem sie auf der Party ihrer Nachbarin Sonja mit einer Duftkerze aufgetaucht war, die sie 4 Monate zuvor geschenkt bekommen hatte- von Sonja. Es wäre wahrscheinlich gar nicht groß aufgefallen, dummerweise hatte Steffi auf eine neue Verpackung verzichtet. Seitdem leihte sie sich die Milch beim Nachbarn unter ihr.
Jetzt also das Wichtelgeschenk für Marion. Warum musste sie eigentlich ausgerechnet bei der Wichtelauslosung Marion ziehen, ihre beste Freundin? Der konnte sie nicht irgendeine Motivtasse gefüllt mit Duftkerzen schenken, das musste schon etwas besonderes sein. Steffi überlegte, während vor ihr im Regal ein Dutzend „Dancing Santas“ ein fröhliches „jingle Bells“ schmetterten und vor sich hin blinkten. Steffi hätte ihnen am liebsten ihre fröhlich wackelnden Hälse umgedreht. Sie schaute sich in dem Laden um. Rentiergeweih-Haarreifen? Witzig aber sinnlos- Taschenwärmer gegen kalte Hände? Zu billig. CD mit Weihnachtsliedern? Marions Musikgeschmack würde Amok laufen. Steffi verzweifelte langsam.
6 Geschäfte später hatte sie immer noch keine passende „Wichtelkleinigkeit“ für Marion. Ihre Verzweiflung wurde nicht besser- im Gegenteil, Steffi erkannte Ansätze von Panik. Deshalb beschloss sie, dass der Einkaufshorror jetzt ein Ende haben sollte und sie notfalls doch wieder mit einer Motivtasse auf der Wichtelfeier aufkreuzen würde.
Winter
Der Schnee weht über die Dächer
In der Ferne hört man Gelächter
Von Kindern die jauchzend den Berg hinabflitzen
Dick eingepackt auf ihrem Schlitten sitzen
Jede Schneeflocke wird einzeln bestaunt
Und in einem Schneemann verbaut
Der Winter sorgt für strahlende Kinderaugen
Ganz ehrlich- ich kann es kaum glauben
Die Scheiben vereist, das Auto bibberkalt
Die Straße spiegelglatt, du rutschst ohne Halt
Die Mütze hast du zuhause vergessen
Der Schal wird um den Kopf gewickelt stattdessen
Der Weg zum Bäcker wird zum unfreiwilligen Tanz
3x ausgerutscht, 2 x hingefallen- deine morgendliche Bilanz
Jede Schneeflocke wird einzeln verflucht
Und der nächste Trip in den Süden gebucht
Jan 8 2009
enzo – session 9
das richtige
es war tief in der nacht. das haus am rande der stadt lag in nebel gehüllt. ein elfjähriger junge träumte von einem alten mann, erwachte und wusste nicht, wie ihm geschah. alles war anders als sonst. er schwebte inmitten seines kinderzimmers, seine arme fühlten sich federleicht an und seine hände glimmten von innen heraus. eigentlich sollte er ängstlich nach seiner mama rufen, doch in seiner brust pochte ein noch nie da gewesener mut. er hob langsam einen arm, ballte die faust und zog diese zu sich. kaum jemals war er sich so sicher gewesen, was zu tun war. er schloss die augen, senkte den kopf und konzentrierte sich auf den druck in seiner hand. es bedurfte nur noch eines kleinen rucks und das hausdach schoss schlagartig mit einem ohren beteubenden knall in den himmel und zerbarst in tausend stücke und ein granularer regen ging hernieder. der donner verebbte zu einem gewirr aus schreien, weinen und dem heulen einer sirene. der junge fühlte sich so stark wie noch nie, sank langsam auf die knie und fühlte mit seinen händen das heisse granulat. sein körper stand unter knisternder spannung, wie ein überdehnter bogen der jeden moment reissen kann. doch bevor er die spannung zu einem sprung entlud, genoss er sie noch einen moment und fühlte in sich hinein. die luft roch verbrannt und ein nasskalter wind mit vereinzelten schneeflocken fegte ihm durch die blonden haare. ein moment der stille und er flog wie von einem katapult geschossen in die wolkendecke, im geiste klar das ziel vor augen - eine villa und einen schlafenden mann, genauer gesagt dessen hals. am scheitelpunkt des kurzen fluges nahm er den ersten atemzug. fauchende luft, eine geschlossene wolkendecke unter ihm, millionen sterne über ihm und er in gedanken schon am ziel. im freien fall durch die wolken, nur einen augenblick der orientierung vor dem aufschlag. der junge durchschlug lautstark das dach des prachtvollen hauses und kam inmitten des schlafzimmers schwebend zum stillstand. ein grauhaariger mann schrie laut auf und warf die bettdecke weit von sich und da heftete auch schon eine fremde hand an seinem hals und drückte zu, verebbte das schreien. der junge sah dem zappelnden mann tief in die augen. ein wink mit der freien hand ließ die hauswand bersten und er schleifte den mann quer durch das schlafzimmer und warf ihn im hohen bogen auf die kühlerhaube eines edlen schwarzen wagens, der in der einfahrt parkte. benommen und hustend lag er da eine weile. schwerelos gesellte sich der kleine junge dazu und schob sein gesicht dicht über das, des schwer atmenden mannes. dann nahm er ihn am hinterkopf, drehte ihn etwas und sagte kraftvoll. “was, verdammt noch mal ist das???”, doch er wartete keine antwort ab. “das ist ein maibach!!! dieses auto kostet über 350.000 euro!!! ja hast du sie noch alle? ich werde dir mal was zeigen! pass auf!!!” und er presste den kopf des mannes langsam durch das knirschende panzerglas der windschutzscheibe und der verlor das bewusstsein.
das blut im gesicht des mannes war noch nicht trocken, als er wieder erwachte. die luft war heiss und tropisch feucht und er lag in einer düsteten, fensterlosen halle inmitten von hunderten von schwarzen körpern. erschrocken richtete er sich auf. es roch nach verwesung und exkrementen – ein baby schrie, es war nicht auszumachen, ob die menschen tot waren, oder schliefen. unbeweglich starrte der mann eine weile in die menge und rang nach orientierung. er war mit armen und beinen an einige fässer gekettet. da setzte in seinem nacken ein fester, bestimmender griff ein und eine kinderstimme sagte “weisst du warum diese menschen hier zusammengepfercht, auf pappkartons liegen? weisst du was es bedeutet ständig in todesangst zu leben? was es heisst seine eigenen kinder im stich lassen zu müssen? wie es ist aus einer kloakle zu trinken, weil das die letzte option zum überleben ist? sicher nicht! deshalb sieh dich hier gut um! du hast einen verdammt langen heimweg. und wieder zu hause amgekommen, erwarte ich von dir das richtige zu tun. ich wiederhole das! ich erwarte von dir das richtige zu tun!!! der nackengriff riss ab, es tat einen lauten knall und die halle war plötzlich von hunderten von kerzen taghell erleuchtet. die kerzen waren in konzentrischen kreisen um den angeketten aufgestellt. plötzlich standen überall schwarze, nur mit fetzen bekleidete menschen auf und kamen auf ihn zu. schon einen augenblick später brach direkt neben ihm ein streit aus. eines der fässer wurde umgestossen und daraus schoss eine schwall von münzen, die auf dem unebenen boden durch den wald aus nackten beinen rollten. und sofort wurde es laut und ein tumult brach aus. die menschenmassen stürmen ins zentrum der halle um ein paar münzen zu ergattern und der angeketete weisse wurde förmlich aufgefressen. als würde ein schwarm piranhas einen ins wasser gefallenen affen skeletieren. doch so intensiv der kampf war, so schnell war er auch wieder vorbei und kurz darauf waren alle münzen verschwunden und die halle war menschenleer. es dauerte knapp vier wochen bis der weisse mann wieder seine heimat erreichte. alles hatte sich verändert. das leben wie der es kannte war vorbei.
und heute noch träumt der kleine junge von dem alten mann, doch seit dem ist er nie wieder davon aufgewacht.
Dec 13 2008
enzo – session 8
( 93-07-02 ) // Gewissensentscheidung
Was verstehen sie unter einer Gewissensentscheidung?
Das ist wohl der Prozess einer Urteilsfindung, der komplizierte ethisch- moralisch oder soziale Probleme in Einklang bringen muss, in Form eines Kompromisses.
Hatten sie schon einmal eine solche Entscheidung zu treffen?
Natürlich, andauernd. Solche Entscheidung fällt man doch jeden Tag, jeder Mensch.
Meinen sie nicht, dass sie der Frage ausweichen, indem sie sie trivialvisieren?
Nein, ich bin davon überzeugt, dass das Gewissen ein sehr aktiver Teil unseres Geistes ist, und bei sehr vielen Entscheidungen im Alltag eine Rolle spielt.
Sind sie Atheist?
Ja.
Schämen sie sich dafür?
Was soll die Frage, natürlich nicht. Schämen sie sich denn keiner zu sein?
Das wissen sie doch garnicht!
Ihrer Fragestellung war dies zu entnehmen.
Sie sind also Atheist und glauben nicht an Gott.
Nein, absolut nicht. Überhaupt finde ich dieses Verhör ziemlich lächerlich. Was wollen sie hier eigentlich herausfinden?
Überlassen sie das uns.
Ahh, hinter ihnen stehen noch andere.
So ist es.
Darf ich fragen wer dass ist, es hieß das Gespräch wäre vertraulich.
Nein, dürfen sie nicht.
Dann werde ich jetzt abbrechen. Ich sehe sowieso keinen Sinn in diesen Fragen.
Bitte, brechen sie nur ab, wir sind auf sie nicht angewiesen, und können auch Andere befragen.
Was soll das? Sie schleppen mich hier her, durchaus kein seriöser Ort, stellen mir ein Glas Wasser vor die Nase, in dem sonst was darin seinen könnte und fangen an mir Fragen über mein Weltbild zu stellen, die wohl kaum in sinnvoller Beziehung zu dem Job stehen dürften. Gut, ich bin ein toleranter Mensch, sie sind mir unsympathisch, doch deshalb verweigere ich mich ihnen nicht. Meine Lebensgeschichte ist kein Geheimnis, sie können sie hören. Stellen sie weiter ihre merkwürdigen Fragen.
Sie scheinen mir nicht sonderlich kooperativ, aber auch ich bin nicht frei von Toleranz. Trinken sie doch einen Schluck.
Ich weiß nicht, ob das gesund für mich wäre.
Trauen sie mir zu, sie vergiften zu wollen?
Ich weiß nicht, ich kenne sie ja nicht. Nichtmal ihre Absichten. Ich ziehe es vor nicht zu trinken.
Aber es ist sehr gutes, frisches Wasser.
Woher haben sie es?
Aus einer Sauberen Quelle.
Wo ist diese Quelle?
Das war nur so gesagt, das Wasser ist in Ordnung; sehen sie selbst, ich nehme auch einen Schluck.
Ja, aus ihrem Glas.
Was stimmt damit nicht?
Trinken sie auch aus meinem!
Jetzt werden sie mal nicht kindisch.
Bevor sie nicht aus meinem Glas getrunken und geschluckt haben folge ich ihrer Einladung nicht, selbst zu trinken.
Vergessen wir das Wasser. Warum glauben sie, dass ich ein Gottgläubiger waere?
Haben sie bedenken aus meinem Glas zu trinken?
Ich sagte doch, vergessen wir das Wasser. Beantworten sie meine Frage?
Wenn sie einen Schluck aus meinem Glas nehmen.
Also bitte, hier. ( Er nimmt einen kleinen Schluck. ) Reicht ihnen das?
Sie hatten gefragt, ob ich mich fuer mein Atteistsein schaeme. Diese Frage veranlasste mich, sie als einen Christen einzustufen.
Ich bin auch Atheist. Etwa seit meinem sechzehnten Lebensjahr.
Ist die Konfession an dieser Stelle irgendwie besonders wichtig, oder wollen sie mich nur verwirren?
Ich versuche einen Eindruck zu gewinnen. Was passiert, wenn man sie reizt, wenn man sie unter Druck setzt.
Und, wie mache ich mich?
Soweit ganz gut. Ein Einstellungsgespraech ist das hier jedoch nicht.
Was ist es dann?
Wollen sie jetzt nicht doch einen Schluck nehmen?
Was ist in dem Wasser?
Nichts!
Das glaube ich ihnen nicht. ( Er vergießt das Wasser. Pause. )
Das war nicht sehr klug von ihnen.
Warum nicht.
Meine Wohlwollen zu verlieren ist kein Vorteil für sie.
Ich glaube nicht, dass ich auf sie angewiesen bin.
Mehr als sie ahnen, mein Freund.
Außerdem kann so ein bisschen Wasser kaum der Auslöser für den Verlust des Wohlwollens sein.
Ich bin sensibel, wer meine Gastfreundschaft verletzt, verletzt auch mich.
( Pause. ) Machen wir weiter, auch ohne Wasser und Wohlwollen, mich interessiert die Sache langsam. Warum treiben sie so einen Aufwand, für was?
Die Fragen stelle ich. Welches Verhältnis haben sie zu der Regierung?
Zu unserer?
Korrekt!
Nun ja, ich bin nicht sonderlich engagiert. Ich sympathisiere weder mit Terroristen, noch mit Konformmisten. Neutral ist wahrscheinlich das Wort, was sie hören wollen.
Sie sollen hier nichts erzählen, was ich hören will, sondern ihre Meinungen zum Ausdruck bringen. Wie beurteilen sie die Verbrechensbekämpfung durch die staatlichen Sicherheitskräfte?
Ich glaube nicht, dass ich dazu eine Meinung habe.
Dann bilden sie sich eben hier und jetzt eine.
Tja, ich weiß nicht viel über Verbrechensbekämpfung. Verbrecher müssen eben bekämpft werden, so ist das nun mal. Soll ich sagen ob ich es gut heiße? ( Nicken ) Gut. Für wen, für mich oder die Gesellschaft, den Staat oder was?
Wie sie wollen.
Für mich ist es natürlich schlecht, ich bin ein Verbrecher.
Verurteilen sie die Methoden der Sicherheitskräfte?
Ich weiß nichts über ihre Methoden.
( Pause ) Zeitung lesen sie wohl nicht?
Kaum.
Können sie mit Schusswaffen umgehen?
Jetzt wirds konkret, ja, ich habe zwar keinen Waffenschein, kann jedoch sehr gut schießen.
Wo haben sie dass gelernt.
Auf einer griechischen Insel bei Bekannten. Ich habe meine eigene Waffensammlung.
Haben sie Skrupel auf einen Menschen zu schießen?
Solange für mich keine Gefahr besteht, nein.
Keine Skrupel?
Nein.
Keine Gewissensbisse?
Nein.
Und was sollte das dann vorhin mit dem Zeug, dass das Gewissen bei ihnen so beschäftigt wäre?
Das Gewissen schaltet sich ein, wenn ich mit andenern Menschen Zusammenlebe, mit ihnen kommuniziere, jedoch nicht, wenn ich sie über den Haufen schieße.
Sie sind witzig, dass gefällt mir.
Ich meine das ernst.
Haben sie Kinder?
Nein.
Sind sie sonst irgendwie gebunden?
Ich habe eine Mietwohnung.
Keine Freundin?
Nein.
Gut. Sie kriegen den Job.
Ich würde nur noch gerne erfahren, was ich tun soll und wie die Bezahlung sein wird, ist wohl nicht zu viel verlangt oder?
Wir werden sie sehr anständig bezahlen, schließlich werden sie ein Geheimnisträger sein. Ich hoffe nur wir bedauern diesen Schritt nicht, da ich sie für Impulsiv halte.
Was soll ich tun?
Sie bekommen SpezialAufträge. Monoton wird ihre Arbeit nicht sein. Alles was sie noch nicht können wird ihnen beigebracht werden. Der erste Auftrag wird eine Observierung sein, AbhöreArbeit, Beobachtungen, Protokolle führen. Das dürfte im Rahmen ihrer Möglichkeiten liegen.
Wen soll ich observieren?
Genaueres erfahren sie später, eines jedoch schon jetzt. Die Frau, die sie Beobachten sollen ist attraktiv und äußerst wohlhabend, könnte ihr Geschmack sein.
Nov 27 2008
enzo – session 7
Pete und Stella
Pete versuchte sich von den kraftvoll einfallenden Sonnenstrahlen nicht aus seinen Tagträumen reißen zu lassen. Er hatte wie so oft sein T-Shirt ausgezogen und zu einer Wurst verdrillt, um es sich so auf die Augen zu legen. Den Mädels im Pub erzählte er öfters, er betreibe Traumforschung, weil er sich hin und wieder Notizen kurz nach dem aufstehen machte. Tatsächlich war das nur eines seiner vielen Alibis, um nicht wirklich am Leben teilnehmen zu müssen. Gegen halb Elf schlief er meist schon etwas unruhig. Er streckte seinen Arm aus und tastete nach Stella, doch sie war nicht mehr da. Der gestrige Abend war wieder einmal heftig gewesen und gepeinigt von einem Schub Flashbacks, schnellte er hoch, und blinzelte fast blind nach seiner Jeans, in der noch Kippen stecken mussten, angelte sie vom Boden mit seinem großen Zeh und zog sie zu sich hoch. Der erste Zug stach in der Lunge und erinnerte Ihn an die Notwendigkeit, umgehend die neue Coldplayscheibe anzumachen und einen starken Kaffee einzuwerfen. Die zentrale Stadtwohnung war riesig, unaufgeräumt und völlig überheizt und der Weg zur Küche war in seinem Zustand lang und beschwerlich. Er schlenderte an Stella vorbei und murmelte.
„Gott sei dank, sie ist gar nicht tot!“
Nur mit einer Shorts bekleidet, trat er auf den sonnigen Balkon, trank einen Schluck Milch aus der Tüte, Stella ermahnte ihn mit einem brummen und streckte sich, in der Hoffnung, das ihn eines der Mädels von gegenüber wieder mustern würde, aber es war Wochentags und die Welt saß vor Bildschirmen und tippte. Nur Pete nicht. Erwerbsarbeit war nicht sein Ding. Er hatte beschlossen sich von Stella adoptieren zu lassen, das wäre zu bequem, und deshalb stand jetzt erst mal die Erforschung von Dekadenz auf dem Programm.
Stella saß tatsächlich vorm Bildschirm und tippte. Wenn sie nicht gerade Mäntel, oder Abendkleider designte, schrieb sie Artikel für ihre Kampagnen. Eigentlich arbeitete sie immer. Wenn nicht gerade unterwegs, machte sie das meistens von zu Hause aus, obwohl ihre Agentur nur ein paar Stockwerke tiefer lag. Pete verstand gar nicht wie man so einen Wirbel um Klamotten machen konnte, aber Stella verstand auch nicht, wie man so einen Wirbel um Musik machen konnte. Da waren sich beide wunderbar einig. Sie war Agenturchefin und beschäftigte ein ganzes Heer von talentierten Modedesignerinnen. Bis Pete bei ihr eingezogen war, dachten alle sie wäre lesbisch, weil sie prinzipiell keine Männer einstellte und schon ewig Workoholicsingle gewesen war. Aber das hatte andere Gründe. Ihr war klar, Männer können manche Sachen eben nicht und sie hatte recht. Stella war der temperamentvolle, südeuropäische Typ und hatte die Angewohnheit, ab und zu fluchend ihre Macbooks aus dem Fenster zu werfen. Deshalb hatte sie auch immer einige davon auf Vorrat da und speicherte routinemäßig ihre Arbeit wireless auf dem Agenturserver. Es war ein Wunder, das sie dabei noch niemanden umgebracht hatte. Aber wie das meiste im Leben, war auch das nur eine Frage der Zeit. So ein zwei Kilo Notebook entwickelt beim Fall aus dem sechsten Stock eine Aufschlagswucht, bei der leicht die Schädeldecke aufplatzen kann, bemerkte Pete regelmäßig, wobei ihm eigentlich nur die vielen, schönen, weissen Notebooks leid taten, weil er sich als Schüler mal eines vom Mund abgespart hatte. Pete ließ die volle Milch auf dem Balkon in der Sonne stehen, setzte sich zu Stella an den riesigen und reich gedeckten Küchentisch und schenkte sich Kaffee ein. Die beiden sahen zusammen aus, wie das Bilderbuchtpaar. Er hatte was von einem etwas vergammelten Rockstar und sie hatte sich früher mit modeln durchgeschlagen, hatte hüftlange rote Haare und eine Präsents, die Männern regelmäßig Schweißperlen auf die Stirne trieb. Pete allerdings war viel zu verplant für Angst vor schönen Frauen. Er war beim aufreißen meist so besoffen, dass er erst am nächsten Morgen feststellten konnte, ob er einen guten Fang gemacht hatte, oder nicht. Zum Frühstück blieb er aber immer. Die Frage war nur, ob er mit oder ohne ihrer Telefonnummer die Wohnung verlassen würde. Stellas Nummer brauchte er gar nicht, weil er einfach nicht mehr gegangen war. Und da ohnehin die halbe Agentur einen Zweitschlüssel besaß, war alles ganz unkompliziert gewesen. Das ganze war klar Liebe auf den ersten Blick. Und sie waren sich da beide so sicher, dass sie sich das nicht mal sagen mussten.
„Weißt du was ich geträumt habe?“, fragte er.
„Klar!… Was denn Schnuffel?“
„Ich habe geträumt, dass du dich auch noch umbringst. Und danach dann gleich dieser George… Unabhängig… am selben Tag.“
„Ach komm her!“, sagte sie und umarmte ihn ganz fest, streichelte ihm über den Kopf und wendete sich dann wieder ihrem Mac zu.
„Genau… ich hab das mal recherchiert. Ich kenne elf Leute, die sich umgebracht haben. Und rate mal was der Durchschnitt ist?“
„Durchschnitt wovon?“
„Wie viele Menschen man durchschnittlich kennt, die Selbstmord begangen haben.“
„Und?“
„Eins! Jeder Mensch kennt im Durchschnitt einen Menschen, der sich das Leben genommen hat. Ich kenne elf.“
„Ja, ist schon krass.“
„Und ich hab das mal recherchiert, selbst wenn ich in einem Irrenhaus leben würde, in dem allen gleichzeitig das Heroin ausgegangen wäre, allen gerade die Eltern verunfallt wären und alle gleichzeitig erfahren würden, dass sie eine tödliche Krankheit haben und in kürze ableben werden, selbst dann wäre der Schnitt sechs. Ich kenne elf, dabei lebe ich bei dir im Paradies!“
„Das stimmt!“
„Ich hab das mal recherchiert.“
„Das erwähntest du bereits.“
„Und weißt du was dabei rausgekommen ist?“
Sie hielt kurz inne und blickte über ihre knallrote Charakterbrille in seine Augen.
„Etwa Eins?“
Ihr Gehirn arbeitete um diese Uhrzeit etwa zehnmal so schnell wie seins.
„Nein, dass ich beschlossen habe, dem ganzen auf den Grund zu gehen.“
Er nahm einen Schluck frisch gepressten Orangensaft.
„Das geht einfach nicht mit rechten Dingen zu. Verstehst du? Das geht schon rein statistisch nicht. Das muss irgendeinen Grund haben. Vielleicht liegt es an mir? Oder ich weiß es nicht.
Das ist einfach verrückt! Ich sollte eine Suizidhotline aufmachen. Ring!!! Ja guten Tag, ich kann ihnen nicht helfen, sie machen ja doch was sie wollen! Klick!!!“
Ohne, zu ihm aufzusehen, schenkte sie ihm ein Lächeln. Stella war es gewohnt, deutlich mehr Aufmerksamkeit von anderen zu bekommen, als die ihnen schenkte.
Der Verlust von so vielen Menschen hatte dunkle Spuren im Leben von Pete hinterlassen, doch im Moment ging es ihm gut und er schöpfte Kraft aus seinem neuen Projekt. Ein besonders gelungenes Schwarzweissfoto, dass er neulich mal für ein Casting von sich hatte machen lassen, hing zentral an einer Korgwand im Schlafzimmer. Drum herum die Fotos seiner toten Freunde, verbunden mit farbigen Fäden, dazu allerlei Zeitungsartikel und Ausdrucke. Er kam sich vor, wie einer dieser misteriösn FBI agenten, die in ihrer Freizeit dramatische Fälle auf eigene Faust lösen. Er war eindeutig in all diese Selbstmorde verwickelt. Pete saß mit einem der Macbooks auf dem Schoß in einem bequemen Ohrensessel vor seiner Korgwand, auf seinem T-Shirt stand: „Statistik lügt nicht“. Er führte stundenlange Telefonate mit den Eltern und Hinterbliebenen seiner Selbstmordopfer und recherchierte die Hintergründe. Die Kriterein, von denen er seine Fragen ableitete wurden immer vielfältiger und verstrickter. Auf welcher Ebene waren die Gemeinsamkeiten zu suchen? Was verband diese Menschen an der Wand noch, ausser dass sie alle Freunde von Pete waren? Doch so richtig hatte er an dem Tag Blut geleckt, als er einmal früher als Stella aufgestanden war, den ganzen Tag an seinem Fall gearbeitet hatte und sie ihn spät abends aus dem Schlafzimmer rauschmiss, weil sie schlafen musste. Einmal mehr Motivation und Kraft für eine Sache aufzubringen als Stella für ihre tägliche Arbeit war ein ganz klarer Wink mit dem Kaunpfahl für ihn. Nach zweiungdreißig Jahren hatte er endlich etwas gefunden, was zu ihm gehörte. Und auch wenn dazu erst elf seiner Freunde sterben mussten, war das für ihn ein Geschenk des Himmels. Es gab seinem Lotterleben Richtung und Struktur, er trank und rauchte weniger und auch äußerlich sah er gepflegter aus. Auch musste er nicht jede Nacht mit einem neuen Teeniegirl schlafen, um nicht durchzudrehen und das hatte den Vorteil, dass er eine stabile Beziehung mit Stella führen konnte. Sein Leben war zum ersten mal eine runde Sache.
Anastasias Dünndarm
Herr Dünndarm hatte sich wieder mal beim Müll raus bringen ausgesperrt. Und obwohl er die anstehende Prozedur schon einige Male durchgemacht hatte, wartete er eine geschlagene Viertelstunde unruhig auf seinem Fußabstreifer, um sich ganz sicher zu werden, dass sich die prekäre Situation nicht doch irgendwie von selbst lösen würde. Das tat sie nicht… Überhaupt nicht. Mehr durch die Tatsache getrieben, dass er von hier aus seinen Fernseher nicht sehen konnte, als dass ihn diverse Passanten in seinen durchlöcherten Woolworthunterhosen musterten, machte er sich auf den Weg zu Horst, seinem Nachbarn, der eine saftige Watschen für die Erziehungsmaßname hielt und der mit nur einem einzigen Fußtritt die Haustüre von Herrn Dünndarm eintreten konnte. Die Situation entpuppte sich als besonders verzwickt, als sich nach mehrminütigem Sturmklingeln an Horsts Haustüre eine vage Erinnerung einzuschleichen begann, die indirekt mit dem Zettel an der Türe zu tun haben konnte, auf dem stand, „Bin im Urlaub… bitte Katze füttern. “ Die rieselnden Schneeflocken hatten inzwischen auf Herrn Dünndarms Halbglatze ein Rinnsaal gebildet, das hinter seinen fleischigen Ohren abfloss und sich in seiner Rückenbehaarung sammelte. Herr Dünndarm dampfte wie ein üppiger Komposthaufen und trottete den Weg zurück zu seiner Haustüre. Angekommen, bemerkte er, dass die Situation sich immer noch nicht geklärt hatte… Da hatte er eine Idee. Seine buschigen Augenbrauen hoben sich langsam und verharrten dort eine Weile. Er bemerkte, dass ihm kalt wurde und er vergaß die Idee wieder. Dann klingelte er drei Mal – er klingelte immer drei Mal. Ihm war irgendwie klar, dass es sinnlos war an seiner eigenen Türe zu klingeln, wenn er nicht zu Hause war, aber was sollte er tun? Da niemand seine Haustüre öffnete, bekam er das Bedürfnis, das sie sich öffnete und als sie das auch nach einem schmerzhaften Fußtritt nicht tat, wurde er etwas wütend. Inzwischen hatte sich auf dem gegenüberliegenden Supermarktparkplatz eine kleine Traube von Jugendlichen gebildet, die mit Bierdosen bewaffnet, sich einig schienen, dass dieser nackte Dicke, das unterhaltsamste war, was sie die nächsten Stunden zu Gesicht bekommen würden und dass er gleichsam auch ein geeignetes Ziel für eine koordinierte Schneeballattacke abgeben würde. Ein Streifenwagen fuhr im Schritttempo vorbei und hielt einige Zeit, wohl um die Jugendlichen etwas einzuschüchtern. Die Sattelitenstadtsiedlung war berüchtigt für gewaltsame Übergriffe von alkoholisierten Jugendlichen. „Polizei anrufen…. gute Idee“, dachte Herr Dünndarm und sah Rettung in Sicht, griff in seine Bademanteltasche, um seine Fernsehbrille aufzusetzen, denn die brauchte er, um das Telefon suchen zu können. Er griff ins Leere, sein Bademantel befand sich dummer Weise im Haus. Das war ein ernsthaftes Hindernis, denn ohne seine Brille würde es ewig dauern das Telefon in all dem Chaos zu finden. Herr Dünndarm streichelte seinen monströsen Bierbauch und dachte eine Weile über die Rufnummer nach, die er wählen würde, und was er dann wohl werde sagen müssen. Währenddessen starrte er, nach Konzentration ringend, mit ernstem Blick auf den Streifenwagen vor seiner Haustüre, der nach einer Weile langsam weiter fuhr und dadurch Herrn Dünndarms Augenbrauen hochschnellen ließ, denn er begann die Möglichkeit zu entdecken, sich direkt an die Polizisten zu wenden, die sich in dem Streifenwagen befinden mussten. Das wäre sicherlich ein Vorteil. Doch als er nach einem weiteren, vergeblichen Griff in seine Bademanteltasche und mit weit geöffnetem Mund bereit war, um auf die Polizisten zuzugehen, waren diese schon außer Sichtweite und seine Augenbrauen senkten sich langsam wieder. Jetzt war ihm inzwischen ernsthaft kalt und er verpasste nach einer langen Pause seiner Haustüre erneut einen Tritt… Dann noch einen… Dann klingelte er drei mal, klingelte dann etwas Sturm, klingelte dann eine Weile lang Sturm in Dreiergruppen, um dann noch einmal, diesmal aber betont heftig, gegen seine Türe zu treten. Im Moment der Kollision seines Fußes mit der Tür, schoss ihm ein heftiger Schmerz in seinen Zeh, und rund um ihn schlug eine Salve von Schneebällen ein, einer davon platzte hart auf seinem Hinterkopf. Doch ohne sich für die Herkunft der Schneebälle zu interessieren, gab er seiner weiter anschwellenden Wut durch hartnäckiges Sturmklingeln Ausdruck. Irgendwann drehte er sich um, griff vergeblich nach seiner Brille, ärgerte sich über seinen fehlenden Bademantel und stapfte verdrossen auf die Rückseite seines Hauses, um zu kontrollieren, ob er vielleicht über die Hintertüre Einlass finden würde. Routinemäßig stapfte er die Hintertreppe hoch, lief quer durch sein Wohnzimmer zum Badezimmer, nahm seinen Bademantel vom Haken, zog ihn an, griff in die Manteltasche, zog seine Brille heraus, setzte sie auf und sah sich um. Das Telefon lag direkt vor ihm auf einem Stapel Bananenkartons. Ein Glücksimpuls bahnte sich seinen Weg durch das Gehirn von Herrn Dünndarm, der das Telefon in der Linken, erfreut feststellte, das sein Apparat eine eigene Notruftaste besaß. Doch als ihm die Stimme am anderen Ende der Leitung fragte, ob er einen Zweitschlüssel besitze, legte er verdutzt auf. In der Tat… er besaß einen! Doch wo? Er sah sich um. Berge von Bierdosen, dutzende überquellende Aschenbecher, riesige Stapel von Werbebroschüren, Unterwäsche, Socken und jede Menge Flaschen. Er beschloss, dass das mit dem Zweitschlüssel noch warten könne, diesen zu finden würde einer umfangreichen Säuberungsaktion bedürfen, und er ließ sich in seinen Fernsehsessel fallen. Doch noch bevor er dreimal die 320 Kanäle durchgezappt hatte, klingelte es an der Tür. „Das muss Horst sein“, dachte er. Herr Dünndarm schaffte es erst nach dem dritten Anlauf, sich aus dem sehr bequemen Sessel zu befreien, schleppte sich zur Haustür, entdeckte ein Stückchen uralten Weihnachtsstollen auf der Anrichte, stopfte diesen alles voll bröselnd in seinen Mund und öffnete mit der anderen Hand die Tür. Die Abendsonne stand tief und strahlte ihm kraftvoll, golden ins Gesicht, so dass er die Augen völlig schloss als er sagte. „Hmmmhm?“ Eine sanfte Frauenstimme mit osteuropäischem Akzent sagte: „Herr Dünndarm?“ „Hmhmmhmhmmh!“, antwortete er. „Hallo, ich bin Anastasia. Sie haben mich in einem Preisausschreiben gewonnen!“ „Hhhmhmhmm?“, fragte er und öffnete seine Augen einen winzigen Spalt. Und das war dann auch der Moment, an den er sich so oft zurück erinnern sollte. Der Moment, an dem er sich so unsterblich verliebte. Unendlich viel Licht strömte in seine kleinen, unruhigen Augen. Es sollte der Wendepunkt in seinem Leben werden, in dem schlagartig zum aller ersten mal, alles in seinem Leben einen Sinn bekommen sollte. Die von blonder Haarpracht wallende Silhouette, die so unwiderstehlich duftete und mit hautengem Outfit und ihren perfekten Körpermaßen geradezu aufforderte, sie direkt hier und jetzt zu bespringen, stand einfach nur so vor der Haustüre von Herrn Dünndarm und machte keinerlei Anstalten schreiend wegzulaufen. Im Gegenteil. Nachdem Herr Dünndarm den trockenen Stollen mit einiger Mühe hinunterwürgen konnte, und nun damit beschäftigt war, sich mit seinen Raucherwurstfingern beschämt die Reste von Stollenbaz aus den Winkeln seiner dritten Zähne zu kratzen, wiederholte die Licht umflutete Engelsgestalt: „Hallo, ich bin Anastasia. Sie haben mich in einem Preisausschreiben gewonnen!“ „Bitte… Komm’se rein!“ Mit ihren hochhackigen Schuhen überragte sie Herrn Dünndarm um zwei Köpfe. Sie warf ihren rosa Angoraschal über ihre Schulter, hob ihr entzückendes, handbesticktes Köfferchen vom Boden auf und betrat mit schlanken, seidenen, nackten Beinen das Haus. Ihre vollen Lippen und ebenen Gesichtszüge wirken über alle Maßen perfekt. Er Stand weiter vollkommen verdutzt mit offenem Mund vor der Tür, während sie ohne Umschweife damit begann das Haus aufzuräumen. Als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes gemacht und als wäre es das selbstverständlichste von der Welt, warf sie Unterwäsche, Hosen, Pullover und Socken auf einen Haufen, entleerte die Aschenbecher und stapelte sie zu einem Turm, las jede einzelne Werbebroschüre einzeln vom Boden auf, als wären es wertvolle Dokumente, klappte sie vorsichtig zusammen und stapelte sie sorgsam auf einem Beistelltisch. Dann wischte sie mit einem feuchten Tuch die Möbel. In windes Eile lichtete sich das Chaos und der Dreck verschwand. Herr Dünndarm beobachtete das für ihn völlig Unfassbare sprachlos und aus sicherer Distanz heraus. Im Nu lief die Waschmaschine und war alles Geschirr abgewaschen, abgetrocknet und eingeräumt. Und als das Haus makellos war und Herr Dünndarm immer noch halb nackt, mit dem Rücken an eine Wand gepresst in seinem nicht wieder zu erkennenden Wohnzimmer stand, trat Anastasia würdevoll vor ihn, sah ihm tief in die Augen, blieb eine Zeit lang so stehen, hob dann ruhig ihren hübschen Arm, wischte mit ihrem Daumen ein paar Brösel vom Mund des Herrn Dünndarm, nahm bestimmt seine Hand und führte ihn ins Schlafzimmer, ließ ihre Kleider fallen, legte sich ins frisch gemachte Bett und machte eine sichere, einladende Geste mit ihrem Kopf. Da schoss Herrn Dünndarm das Adrenalin dermaßen in den Hals, dass er an zwei Wänden kollidierte, bevor er mit Höchstgeschwindigkeit das Badezimmer erreichte. Während er die Dusche mit der einen Hand aufdrehte, schnappte sich die andere die Zahnpaste und das rechte Bein gab der Badezimmertüre einen Schubs. Als die Dusche voll aufgedreht war und damit eine Hand frei wurde schnellte diese zur Zahnbürste, griff treffsicher nach ihr und führte sie in einer heftigen, schwungvollen Bewegung zur bereits geöffneten Zahnpastatube. Unmittelbar entlud sich mit einem explosiven Geräusch ein dicker Spritzer Zahnpasta auf die Bürste, die praktisch im gleichen Moment im Mund von Herrn Dünndarm verschwand. Die Zahnpastatube fiel ins Waschbecken und die frei werdende Hand riss die alte Unterhose zu Boden und danach den Duschvorhang zur Seite. Mit absurder Frequenz rubbelte die Zahnbürste hin und her, während er unter die Dusche sprang und sich im Flug das Duschgel schnappte. Er schloss fest die Augen und presste das Gel über seinem Kopf mit ganzer Kraft zusammen. Seine Glatze schäumte auf, er schleuderte das Gel zur Seite und begann sich am ganzen Körper hektisch im Rhythmus der Zahnbürstenbewegung abzurubbeln. Nach Luft schnappend warf er die Zahnbürste von sich und richtete den harten Wasserstrahl mithilfe der zweiten Hand auf seinen Mund und seine dritten Zähne wirbelten darin herum. Dann stoppte er den Wasserstrahl mit einem gekonnten drall am Haupthahn, sprang aus der Dusche und rubbelte sich wie ein Verrückter mit einem winzigen Handtuch am ganzen Körper ab. Dann stürmte er zurück zum Schlafzimmer, blieb abrupt und schwer atmend auf der Türschwelle stehen und war unglaublich erleichtert, dass sie noch nicht verschwunden war. Eine einzige Kerze erleuchtete das warme Zimmer und sie hatte sich inzwischen zugedeckt, so dass nur noch ihr Köpfchen, eine Schulter und ein Arm zu sehen war. Bildschön sah sie aus, sie atmete tief und schien eingeschlafen zu sein. Da wich Herr Dünndarm vorsichtig und ehrfurchtsvoll zurück, um ja kein Geräusch zu machen, und wollte gerade leise die Türe schließen, als Anastasia mit verschlafener Stimme flüsterte. „Komm zu mir, mein Liebster!“ Da schossen Herrn Dünndarm die Tränen in die Augen, und wie an einem sich aufrollenden Faden, wurde er von ihr in das warme, duftende Bett gezogen, liebevoll geküsst und umarmt. Seit diesem Tag waren die beiden ein unzertrennliches Paar und lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage und im Wohnzimmer von Herrn Dünndarm hing in einem schönen, alten Bilderrahmen seit diesem Tag an eine Anzeige aus einer der Werbebroschüren, die Anastasia beim aufräumen entdeckt hatte. Die Anzeige zeigte ein Produktbild von Anastasia in erotischer Unterwäsche, die mit einem Staubsauger in der einen Hand und einem Akkuschrauber in der anderen verführerisch in die Kamera lächelte. Darunter stand in leuchtender Neonschrift. „Gewinnen Sie eine von 999 Anastasias, der neuen Generation von Multifunktionshaushaltsrobotern von Terraforming Bionics.“
Oct 30 2008
enzo – session 6
der schwarze schwan
oh schwarz… du schönste aller farben.
warme regentropfen platzen auf meinem gefieder.
mit gespreizten flügeln dreh‘ ich mich…
und die schwarzen tropfen sprühen – fliehen davon.
die zikaden singen mir zu, wir sind die ältesten freunde.
absolute dunkelheit. mein schutzwall -
meine liebe einsamkeit – meine geborgenheit.
die hitze des tages beharrt am boden zu flirren -
macht alles weich und schläfrig.
ein sanfter flügelschlag und ich verliere den boden.
wie eine daune, so leicht und zufreiden,
schwebe ich in mir selbst und treibe schwerelos dahin.
Über ziegeldächer, äcker und seen.
hier hoch oben, ist mir leicht.
die augen geschlossen… wandert mein blick an duftenden kiefern vorbei, vorbei an kunstvoll geschmiedeten toren, an schwerem, schwarzen ornament.
alles lebt.
ich kenne jeden duft als wäre ich darin geboren.
und wenn ich meine flügel recke, reichen sie bis ans ende der welt und wollen sich dort an ihren spitzen berühren.
und lege ich mich auf den rücken, wird mir der boden zum himmel. hier oben ist die welt ganz meins.
ich schmecke den nebel über dem wald, und gleite durch die zypressen, wie schachfiguren stehen sie im weizen.
und auf einem kissen lass‘ ich mich nieder, auf der schulter der königin.
mein flügelschlag flieht trocken und stolz übers feld und läßt die häupter sich heben.
schwarz.
schwarz ist mein licht, ich möchte nicht sehen, tief schwarz wie die nacht in der dunkelheit.
selbst ein könig bin ich, kräftig und weich, wendig gewand im guten und schönen.
ein engel naht.
ohne zu sehen das da etwas kommt, spüre ich doch den ungebetenen gast. in erwartung der ankunft die haltung gestrafft, rufe mit verschlossenen augen:
„eindringling!
nun kommst du zu mir und willst mich brechen, willst meine augen mit grelle stechen.
willst mich erleuchten und dich mit mir messen, mich in die form einer lichtgestalt pressen.
oh strahlender engel wir beide sind licht. und einer muss gehen, doch ich bin es nicht.
du kennst es nicht anders, sie laufen dir zu, doch ich bin zu herrlich, lass mich in ruh!
und bist du auch tausend mal größer als ich, und bringst die gewissheit der welt hinter dich, so ist dein erscheinen doch lächerlich.
ich werd mich nicht fügen, oder mich mit deinen lügen betrügen.
du sagst du wärst licht, doch hier bist du‘s nicht, durch lügen verliern die worte gewicht.
in licht gertänkt, da magst du erreichen, was immer die allmacht in wahrheit begehrt, doch hier im weizen, in schwärzester nacht, wirst du von allen nur ausgelacht.
kannst dus nicht sehen? zu ende ist hier, unstillbarer hunger nach sonne und gier.
ich lass mich nicht binden und lass mich nicht sehn, da kannst du dich winden, belügen und drehn.
und eins wirst du dir eingestehn, ich werd‘ heut nacht nicht mit dir gehen.“
sanft, sprachlos und wie wogendes schilf wendet sich der engel ab und driftet davon – in die nacht.
„so ist es gut… schwarze gestalt! und warte nur ab was die nacht noch bringt, deine lichtwelt kann schwinden, denn schwärze durchdringt! lichter und schatten, das brauchen wir nicht, denn sehen in schwärze benötigt kein licht.“
da wird ihm vor augen schwarz und schwach, als flöge seine seele dem engel nach.
matt öffen sich seine schwingen, sein hals neigt sich tief.
donner grollt und böhen wirbeln über das wogende weizenmeer.
ihm schwindelt, da geben seine beine nach, er kippt seitwärts, schwer wie ein felsen. ein fauchender windstoß lässt ein paar daunen reissen und sie jagen in die nacht hinein.
und da begint der bleierne, senkrechte fall. nichts kann ihn halten, er ist ohne kraft. im geiste wie glas, sieht er sich beim sterben zu, als wäre er schon ausser sich selbst. und er erschrickt bei seinem eigenen bild, denn was er da sieht, das darf nicht sein.
da fällt ein schneeweisser vogel. majestätisch zwar, gross und erhaben, ja. doch weiss? er stöhnt zweifelnd, dem tod so nahe schießt ihm die wut in die brust.
„das darf nicht sein! so darf es nicht enden! ich bin schwarz und brauche gewissheit – muss es mit eigenen augen sehen!“
da reisst er die augen auf und licht strömt hinein! zum aller ersten mal und so kurz vor dem tode zerreisst das schwarz…
mit rot, falckerndem gelb und schwimmendem blau. unscharfe formen… bewegung…
ein flügel? ein weisser flügel?
er sieht an sich hinab und da wird es ihm klar, dass sein eigenes leben die lüge war.
und schon taucht er ein, ins wogende meer…
wird von ihm verschluckt…
und seine welt wird wieder…
schwarz
Oct 30 2008
susanne – session 6
„Ich habe jetzt Internet“ erzählt mir mein Papa freudestrahlend und stolz am Telefon! Ich freue mich mit ihm! Seit Jahren schon rede ich an ihn hin: besorg dir endlich einen Zugang, das ist so praktisch, gerade für dich als Lehrer, da tun sich ganz neue Recherchemöglichkeiten auf… es geht viel schneller und du findest wirklich alles…“
Jetzt endlich ist also auch mein Vater angeschlossen ans world wide web und geht mit der Zeit.
Er ist stolz und ich verspreche ihm, dass er von mir seine allererste Email bekommen wird. Gleich werde ich mich dransetzen und ihm schreiben.
Eine Stunde später klingelt mein Handy erneut: Papa!
„Hast Du meine Email bekommen“?
„Ja, aber ich kann dir nicht zurück schreiben…“
„Du kannst nicht zurück schreiben? Warum denn nicht?“
Papa klingt leicht verzweifelt: „Wenn ich auf antworten klicke, dann öffnet sich zwar das Fenster, aber ich kann da keinen Text reinschreiben…“
„Hm„ ich überlege „das kann eigentlich nicht sein… Erzähl mir mal ganz genau, was du machst“
„Also, ich klicke auf antworten, dann erscheint zwar dein Text aber wenn ich unten ins Feld klicke, kann ich nichts schreiben…“
Ich muss lachen.. „Aber Papa, die Antwort musst du OBEN drüber schreiben, da blinkt doch automatisch der Cursor an der richtigen Stelle auf…“
Dieses Problem ist also gelöst und mein Vater legt sichtlich erleichtert auf. Ich muss innerlich schmunzeln- das ist auch eine Art von Generationenkonflikt….
Die nächsten Tage erkundet mein Vater die Weiten des Internets- das ist anstrengend- für mich.. Ich werde bombardiert mit Anrufen: Wie heißt noch mal diese Online Bibliothek? Wie melde ich mich bei Ebay an. Und sag mal, wie kann ich eigentlich einen Anhang an eine Email einfügen.
Obwohl ich ein Lehrerkind bin, merke ich, dass meine pädagogischen Fähigkeiten begrenzt sind. Geduld war noch nie meine Stärke und ich hab nicht das Gefühl, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, es zu lernen.
Eine Woche später
Es ist Sonntag, ich bin in 15 Minuten zum Frühstücken verabredet und schon irre spät dran. Jacke, Tasche, Schlüssel, plötzlich schrillt mein Telefon.. Mensch, ich hab doch eigentlich keine Zeit.
„Hallo?“
„Ich bin´s Papa“
„Papa, ich hab leider gar keine Zeit, bin verabredet und eh schon spät dran“
Papa unterbricht mich ungeduldig: „Dauert auch nicht lang- aber jetzt noch mal wegen dem Internet- ich hab da so eine komische Email bekommen von einer Firma, die behauptet, ich würde ihr 658 Euro schulden und ich soll das überweisen, dabei hab ich da gar nichts bestellt…“
„Das ist eine Spam mail, die bekomm ich jeden 3. Tag, einfach ignorieren und löschen…“ Mein Vater scheint mich gar nicht zu hören: „Muss ich jetzt mein Konto sperren? Und soll ich bei der Polizei Anzeige erstatten?“
Ich, leicht genervt: Nein, lösch die Email einfach, und ich muss jetzt auch wirklich…
Papa: „Ja, aber wie kommen die denn an meine Adresse? Bist du sicher, dass die mir das Geld nicht einfach abbuchen…“
Ich merke langsam, wie ich immer gereizter werde… „Papa, wie gesagt, ich bekomm solche Mails auch ständig, einfach löschen, da kann gar nichts passieren, garantiert…“
Mein Vater lässt sich nur mit Mühe beruhigen. Endlich legen wir auf…
Als ich gehetzt aus meiner Wohnung stürme und durch den Vormittagsverkehr zu meiner Verabredung radle, denke ich mir:
Welcher Idiot hat meinem Vater eigentlich eingeredet, dass er Internet braucht???
Oct 16 2008
caro – session 5
enzo cage
Farbe
Siebdruckartige Gewitterwolken türmten sich am Horizont.
In der schwülen Abendstimmung sahen die blauen und roten Stoffe irgendwie verwaschen aus und die klirrenden Armreifen der Frauen hörten sich an wie kleine Vögel.
Eine der Frauen f’ärbte sich die Augen mit Kohl, eine andere ließ sich die Hände mit einem roten Muster bemalen.
Frohe, glitzernde Augen, aufgerissene Münder. die ersten Klänge einer zarten Musik mischten sich in das Klappern der dünnen Ledersohlen und ließen die einzelnen Wortfetzen verschwinden.
Töne bedeckten die Zeit. und doch war sie, die Zeit das, was alles weiterlaufen ließ.
Es gab so viele Farben, alles Farben die man sich vorstellen kann. Das dunkle satte Blau, das gleißende Gelb, das heftige Orange, durchscheinende Rosen, heller Himmel, gü[ne Blätter, dunkle Erde….
Die ersten Frauen ließen ihre Haare auf ihre Schultern und Arme fallen. Blitzende Zä’hne, Augen und goldene schwere Ohrringe zeigten sich bei jeder Kopfneigung.
Die ersten der bestickten Schuhe wurden abgeschtreift.
Eine der Frauen hob ihre Arme und fing ihre schwarzen Haare zusammen, weiße Arme, weiche Haut, dicke Armreifen, ein Lachen.
Dann scheint die Zeit sich zu beschleunigen und dem Betrachter erschien es, als wären die komplizierten Abfolgen von Kleidern, Farben, Klängen nicht mehr menschgemacht, so unausweichlich und sicher schien alles zu sein und doch ohne innere Logik.
Mit einem Schlag standen sie alle geordnet. Die Blicke kehrten nach innen, Die Rücke gerade, die Füße noch scharrend. eine letzte Korrektur an einer Haarsträhne, eine letzte versteckte Hand unter der Borte.
Dann bewegten sie sich als Ganzes auf die dunklen Bühnenbrettter.
Kein Ton, ein heller seufzender Ton, ein dunkler Herzschlag.
Weiche klopfende Tritte, klirrendes Gold.
Hohe Blicke, der erste Tritt nach vorne, der Lichtkegel. beissende Helle.
Die Musik setzt aus. Langsam hebt sie die Hände weiter über den Kopf, öfnet ihre hennaroten Hände und die Armreifen fallen mit einem Klirren. Von den Fingerspitzen beginnt ein Zittern , ein Beben, das sich über die Arme und über die Brust bis zu den Hüften fortpflanzt. Schwarze Augen heben sich langsam., ein kleiner nackter Fuß streckt sich aus den roten Hosen und verharrt in der Luft.
Mit langsamer Qual senken sich Arrme und eine wirbelnde Flut von bunten Wogen bedeckt die Tänzerin. Die einzelnen Körper lösen sich auf in einem Rausch, alle sind sie gemeinsam und doch jeder allein. Die Herzen sind beschäftigt mit Schlagen und fühlen. was sie wollen, wer sie sind, wer sie sieht…
Dann ein langer Ton und Stille. alles steht, alles ruhig.
Die Stoffe erstarren, die Blicke gesengt, wieder die Welt erscheint.
Oct 15 2008
enzo - session 5
Marx Neotokyo
Marx Neotokyo
Es war so etwas wie Herbst. Plastikherbst! Die Sonne durchdrang kraftvoll die schlanken Glastower und trocknete nach und nach die diesige Morgenluft. Schon mittags würde man die Berge sehen können. Der Blick aus dem nahe Yokohama gelegenen Apartment reichte auf der Südwestweite bis zum Meer. Wunderschön! Wir nannten die Gegend [ Satsuki ] – Sumpf, weil man hier vollkommen den Bezug zum Erdboden verlor. Hier gab es Parks und Grünanlagen auf allen Ebenen, doch welche davon einmal ebenerdig gewesen war, ließ sich nicht mehr erkennen. Großstadtmorast. Naturliebhaber waren hier fehl am Platz. Hier regierte ein niemals endender Bauboom.
Seit etwa 4 Monaten, war es schwierig geworden aus Japan weg zu kommen. Täglich entstanden neue Sicherheitszonen und an jeder Grenze warteten zeitaufwendige und völlig sinnlose Transferprozeduren. Es schien mir so, als hätte reisen inzwischen seinen Sinn verloren. Man blieb besser einfach da wo man war und machte das was man machen wollte von dort aus. Diese Pandemie-Paranoia würde ja nicht ewig dauern, dachte ich mir. Außerdem fühlte ich mich wohl, so nahe an Tokyo-City.
Seit ich aus Paris zurück war nannte ich mich [ Youko ] – Sonnenkind. Und auch äußerlich war ich ein ganz Neuer. Statt dem zwanghaften Mittelalterzeug, bei dem ich so lange kleben geblieben war, sah ich jetzt mehr aus wie eine komplexe Lichtspiegelung und das sehr variantenreich – es ging mir nicht mehr so stark um Wiedererkennbarkeit und aus dem Datinggame war ich ohnehin schon länger raus. Das hatte auch Nachteile. Auch hatte ich seit dem eine kleine und undramatische Pause eingelegt. Mit Pause meine ich, dass ich seit dem [ Kolya ] und [ Marvin ] nicht mehr traf. Wir waren so lange ein Dreamteam gewesen, hatten die halbe Welt verrückt gemacht mit unserem Vorsprung (…) Hmmm. Da merkt man mal wieder, das der nervige Sloagen, „you are net“, treffender ist, als man es wahr haben möchte. Tatsächlich, wer ich bin, ergibt sich automatisch mit wem ich zusammen bin, und dadurch ergibt sich was ich mache. Und bin ich allein, bin ich niemand. (ärgerlich) Das hat mich schon lange gestört. Dieses zwanghafte aufbrezeln und tägliche neu positionieren. Völlig undenkbar einfach mal eine Woche lang abzuschalten und alleine klein und schwach zu Hause vor sich hin zu jammern. Nein! Immer am Ball bleiben, immer am Ball!
Es ist irgendwie komisch. Selbst ich, der ich inzwischen unantastbar bin, selbst ich kann nicht mit ansehen, wie mein Ranking dahin schmilzt. Wechselseitige Wertschätzung ist inzwischen genauso inflationär wie Geld oder Vertrauen. Dabei sollte das doch etwas Privates – Persönliches sein. Nein, es gibt nur eine Richtung – nach oben. Wer nicht mit allen anderen wie ein Verrückter mit zieht hat gleich eine ansteckende Krankheit. Da wird selbst ein Gott schnell zum Looser. Ich hasse das! Manchmal wünsche ich mir meinen hässlichen Körper zurück, um andere hässliche Menschen in realen, hässlichen Räumen zu treffen, nur damit das einfach mal für sich alleine statt findet, ohne gleich auf tausenderlei Arten als soziales Ereignis protokolliert in die Geschichte einzugehen. Ja, die Steinzeit. Soziale Begegnung war mal Selbstzweck. Primitiv, aber das hatte was.
Naja. Auf jeden Fall habe ich einen guten Grund, warum ich mich so rar mache. Alles was man im (…) (grrrrrrr) Ahh… Moment, [ Jules ] klopft an. (zschshshp!)
(etwas erschöpft) Hey alter! (hmmhmhmhmhm) Is nich wahr? (hmhmmhmhmhmhmmh) Sag ich doch. Hab ich mir gleich gedacht!!! (hhmhmmhmhmhmhmmhmmhh) Dann sag doch diesen Genies, die sollen in Zukunft ihren Dreck alleine machen! (hhmhmhmhmmhmh) Keine Ahnung, da werden wir uns halt was einfallen lassen müssen. Für [ Toggle ] gibt’s auf jeden Fall keinen Ersatz. Vielleicht müssen wir uns da ganz neu aufstellen. Du… ich bin hier grad an was dran… wir sehen uns eh im Turm. (hmhmhmmmhm) CU. (zschshshp!)
Wo war ich? (…) Äh… Gehirn! (…) ahja! Warum ich mich so rar mache! Weil ich irgendwie den Kontakt zu allem verliere. Ich verstehe die einfachsten Sachen nicht mehr. Eine Zeit lang hab ich mich ja mit den Mädels regelrecht in Desinformation gesult. Hat zwar nichts gebracht, aber wir waren Helden! Damals sind wir alle gegen eine Wand gelaufen. Da gab’s einfach nichts zu holen. Wir waren Idealisten. Wir glaubten tatsächlich an die Wahrheit jenseits der Macht. Naja, immerhin sind wir, wenn auch nicht schlauer, jetzt desillusioniert. Das heißt aber nicht, dass ich an dieser Front das Handtuch geworfen habe. Ich interessiere mich immer noch für das Wesen der Dinge. Nur anders. Ich kann besser weghören, zum Beispiel. Wenn sich jemand mit einem Megaphon vor mir aufbaut, suche ich instinktiv nach unwichtigen und subtilen Sinnesreizen, die meine Aufmerksamkeit binden. Hauptsache den Mainstream boykottieren. Der macht vollkommen Matschbirne.
Wir haben uns alle an das moderne Zigeunerleben gewöhnt. Wir sind überall und persönlicher Besitz ist virtuell. Nur Penner schleppen Koffer mit sich rum. Wozu gibt’s denn Kreditkarten? Das hat aber auch was Ruheloses. Permanent in Jets eingesperrt. Ich mag’s nicht. Naja, besser als irgendwo zu verranzen. Die Apartments sind in letzter Zeit immer krasser geworden. Zur Robotikexplosion waren die meisten von uns noch Robin Hood mäßig unterwegs und haben am wesentlichen gespart. Heute protzen sie alle. Verschwend-o-mania! Wer am meisten raus hat hat gewonnen. Völlig sinnlos, aber was soll’s. Ich mach mit um nicht aufzufallen, oder so.
Apropos Körper. Irgendwie kommen Titten wieder in Mode. Ich meine jeder hat welche. Was ist an den Dingern so Charmant, frag ich mich? Hühner mit Titten? Ich weiß nicht. Das ist doch geschmacklos. Dann lieber Minimal.
Ich hab alle Kanäle zu (…) und hab mich seit sehr langer Zeit mal wieder gelangweilt. Das ist ein gutes Zeichen, finde ich. Auch bin ich kaum noch auf Achse. Dieser Glaskäfig hier ist mein neues Paradies. Einfach mal Universe-Off. Hauptgewinn! Natürlich darf man so was nicht laut sagen – wären ja alle schockiert, aber vielleicht nur weil sie‘s selber nicht ausprobieren. Und wenn das Rauschen im Schädel abnimmt setzten sich nach und nach, ganz zart, wichtige Fragen ab. Gestern zum Beispiel. Wer macht sich denn noch Gedanken über Liebe? Das ist doch was für Scriptschreiber und Heulsusen. Ne ehrlich! Gibt’s doch nicht das das kein Thema mehr ist. Und ich meine nicht Dating, ich meine Liebe. Die gute, alte romantische. Wir steuern alle so souverän und autonom durch die Gegend und wehe wir binden uns… oh mein Gott… das wäre ja schrecklich! Ist ja wie Selbstmord. Totale Selbstaufgabe – scheitern pur. Wer hat sich das eigentlich ausgedacht? Wieso sind wir denn alle allein? Wieso ist das so? Okay, ich bin auch Single. Aber ich merk‘s wenigstens. Allein wie das klingt… „SINGLE“. Das klingt wie Machete, oder Kleinod. Selbst Singles sind schon ausgestorben, weil sie sich von nichts mehr abgrenzen konnten. Statt dessen „daten“ wir uns. Legen am ersten Tag unserer Pubertät eine Vollbremsung ein und verharren den Rest unseres Lebens darin. Verlieben, Verlieben, Verlieben! Das schönste auf der Welt ist es sich zu verlieben! Ja genau. Und Morgen in eine andere. Das ist doch Schwachsinn! Das ist wie sich jeden Morgen aufs neue das selbe Weihnachtsgeschenk vor die Tür zu stellen, nur um abends eine Vergiss-es-Pille zu schlucken und beim aufwachen wieder ganz überrascht zu sein. Kopfschshshsh…
(grrrrr)
Das ist wieder Jules. Ich bin beschäftigt. (…) der will wieder die Titanik retten. (…) Wir hängen da gemeinsam in einem Projekt drin und die halbe Crew ist vorhin abgesprungen, weil der Regisseur den Star gefeuert hat. Das war abzusehen – die Scheinheiligen. Und Jules trommelt jetzt grad ne neue Mannschaft zusammen. Er kriecht dem alten Herrn wieder mal tief in den Arsch. Gibt aber auch stattlich Extrakohle. Ich kann’s ihm nicht ankreiden. Aber ich hab auf diese Scheiße keinen Bock. Die brauchen mich nicht. Ich brauch einfach ne Woche Langeweile. Täglich zwölf Stunden Schlaf.
Altruismus zum Beispiel. Das musste ich selber nachschlagen. Im Prinzip hatte ich selber die Idee. Die drei Leute, die noch wissen was das ist, halten das für so was wie Kannibalismus, irgendwas vorgeschichtliches, was aus pädagogischen Lehrfilmen in Briefmarkenauflösung. Hat sich offensichtlich nicht durchgesetzt. Aber das gab’s mal und das war so real wie alles andere auch. Ich hab mich vielleicht einfach in die Idee verliebt, aber das is‘es doch man! Altruismus ist genau das, was uns heute heilen könnte. Diese kranke Vollgasgsellschaft ist einfach zu reich. Wir brauchen das nicht mehr. Aber nur weil wir alleine sicher genug sind heißt das für mich noch nicht, dass ich zusammen nicht glücklicher wäre.
Das Apartment war protzig und belegte ein gesamtes Stockwerk. Sämtliche Wände waren aus Nanoplastik, das Licht unverzerrt hinein, aber nicht heraus lässt und dabei 40 Prozent der einfallenden Lichtenergie der Klimaanlage zuführt. [ Youko ] liebte Pflanzen. Die mietete er wochenweise. Vor allem neue Orchideenmodelle und transgene Farne. Aber auch Kakteen, Bonsai, Schilf und Nachtschattengewächse. Er hatte seit Jahren ein XXL-Abo bei Faunatics, eine Art robotischer Pflanzenausstatter mit extrem kurzen Lieferzeiten.
Er saß nackt auf einem runden, flauschigen Teppich und entwarf mit weißen, Magneto-Bauklötzen ein spanisches Castello. Die Luft war feuchtwarm, und die akustische Regenwald-Atmosphäre wirkte durch den sanften Wind der durch die Farne wehte authentisch. [ Youko ] isolierte sich allerdings nicht, weil er die Welt nicht mehr verstand, oder weil er bei dem Informationskrieg da draußen den Überblick verloren hätte, er war ganz einach verliebt. Bei einem Undergroundcasting für ein Fantasy-Rollenspiel hatte er eine niedliche kleine Schildkröte, sie nannte sich [ Marx ], interviewt und hatte dann die ganze Nacht mit ihr durchgequatscht. Und gerade weil das ganze nicht den geringsten Dating-Anstrich hatte, und Marxl so wunderbar daneben war und absolut nicht in diese Welt passte, hatte es ihn wohl erwischt. [ Youko ] sammelte Kraft. Kraft um sich von allem loszureißen und auf altmodischste Art in die Welt zu ziehen um [ Marxl ] den Hof zu machen.
Sep 18 2008
enzo – session 4
Eduard Torrent
Es war wieder einer dieser durchschnittlichen Tage im Leben des Eduard Torrent. Er arbeitete seit vierzehn Jahren in einem namenhaften Finanzdienstleistungsunternehmen und hatte sich inzwischen so weit spezialisiert, dass außer seinem direkten Vorgesetzten und Leiter der Risikokapital-ausfalls-schadensminimierungs-abteilung, Herrn Dr. Basel, niemand mehr nachvollziehen konnte, was er überhaupt den ganzen Tag tat. Und Herr Dr. Basel, bei dem es seit einigen Monaten zu Hause alles andere als gut lief, war immer weniger von der Notwendigkeit des Beitrags von Herrn Torrent überzeugt. Seit fünf Jahren schon drohte dem Konzern die Übernahme durch einen Konkurrenten und etwa seit dem war es üblich, die Quartals-Leistungsziele für die Abteilungsleiter unrealistisch stark zu steigern. Seit dem hatte sich das Betriebsklima kontinuierlich verschlechtert und befand sich inzwischen am absoluten Tiefpunkt.
Eduard saß mit kraftvoll durchgestecktem Rücken an seinem Schreibtisch im 9. Stockwerk. Hinter ihm saßen noch zwei Kollegen in seinem Zimmer, mit denen er sich gut verstand, doch alles andere als freundschaftliche Beziehungen pflegte. Es war einer dieser absolut durchschnittlichen Tage, an dem ihm alles durchschnittlich grau erschien und seine Kollegen in besonders durchschnittlicher Art und Weite „Maaalzeit“ blökten, wenn er sie auf einem der Korridore passierte. Der Bürogebäudekomplex war vollkommen aus Glas und Eduard hasste es, durch sieben Büros hindurch beobachtet werden zu können. Transparenz war das neue Motto des Konzerns und Eduard hatte sich nicht beherrschen können, eine Glasscheibe an seine Glaswand zu hängen, um mit ironischem Unterton behaupten zu können, Kunst komme von Können. Überhaupt war Ironie etwas, das die meisten an ihm schätzten. Gerne verwickelte man sich mit ihm im hauseigenen Starbucks in ein Gespräch über Kollegen, Politik, Sport oder Frauen. Und der Tag hätte weiter so absolut durchschnittlich verlaufen können, wenn nicht plötzlich eine sympathische Blondine aus der Trust-Abteilung in einem Rating-Meeting einem der Vorstände in den Kopf geschossen hätte, um sich anschließend aus einem Fenster zu stürzen. Bemerkenswerter Weise landete sie ausgerechnet auf dem Kofferraum des schwarzen S-Klasse-Mercedes von Eduard Torrent, der sich viel Zeit nahm die Szene aus luftiger Höhe zu inspizieren, ohne jemandem zu verraten das das sein Wagen war. Er würde einfach mit dem Taxi nach Hause fahren. In so etwas wollte er nicht hineingezogen werden. Und nachdem sich nach 15 Minuten die Gemüter wieder etwas beruhigt hatten und die meisten wieder vor ihren Bildschirmen saßen und von dort weiter schnatterten, bemerkte Eduard in der Spiegelung seines entspiegelten TFT-Monitors, dass er ein eigentümlich zufriedenes Grinsen aufgesetzt zu haben schien. Ein Blick zur Seite in eine Glastür bestätigte diesen Eindruck, Eduard grinste wie verrückt und merkte jetzt auch, dass er beschwingt war. Rasch hustete und räusperte er in seine Faust, um sich dieses seltsamen Gesichtsausdrucks zu entledigen, doch schwuppdiwupp hatte er wieder ein breites Grinsen auf den Lippen. Er führte den Handrücken zum Mund, was er manchmal tat, wenn er während der Arbeit den Eindruck vermitteln wollte, das er heftig über etwas nachdachte, während er tatsächlich Entspannungsübungen vollzog, oder einfach etwas Zeit schinden wollte. So stand er aus seinem Designer-Bürostuhl auf und ging in Richtung Herrentoilette. Als ihm auf halbem Weg, ein Kollege aus Z6 im vorbeigehen ein betroffenes „schrecklich“ entgegen flüsterte, entwich Eduart völlig unerwartet ein herausplatzendes Kichern, dass er gerade so eben noch in einen Laut verdrehen konnte, der im weitesten Sinne als Zustimmung interpretiert werden konnte. Sein Kopf neigte sich noch etwas tiefer, um sein Gesicht zu verstecken und sein Gang beschleunigte sich. Den letzten drei Passanten vor der Toilette vermied es es in die Augen zu sehen, indem er betont nachdenklich in den Boden starrte und den Grinsemund mit seiner Armbanduhr kaschierte. Doch endlich angekommen bemerkte er, das auch dieser Ort nicht das Maß an Privatsphäre bot, das er jetzt benötigte. Ihm war danach laut zu schreien. Und so machte er auf dem Hacken kehrt und steuerte weiter beschleunigt in Richtung Fahrstuhl, lief an einem der gerade auf ging, jedoch nicht leer war, vorbei um, in den nächsten einzusteigen. Ohne eine konkrete Vorstellung von seinem Ziel zu haben, drückte er Parkdeck 3 und wurde von einem der schnellsten Glasfahrstühle der freien Welt Sekunden später tief im Keller wieder ausgespuckt. Selbst vom Boden des Parkdecks hätte man kultiviert essen können und Eduard eilte mit hallenden Schritten davon, in die Ferne, irgendwohin wo ihn keiner mehr sehen würde und erreichte am Ende des Decks einige beschriftungslose Stahltüren, die er der Reihe nach zu öffnen versuchte, bis er bei einer Putzkammer fündig wurde und mit lautem Knall die Türe hinter sich zuschlug. Er stand fast im Dunkeln, nur ein Exit-Schild an der Decke ließ die Umrisse von einigen Putzwagen erkennen. Er lockerte seinen Krawattenknoten, die feuchtwarme Luft war kaum zu atmen. Und während er auf den Boden sank holte er tief Luft, sehr tief, und als sein Armani-Hemd schon spannte und wirklich keine weitere Luft mehr in seinem Brustkorb platz fand, kehrte sich der Prozess um und Eduard begann die Luft wieder heraus zu pressen. Und sein Zwerchfell unterbrach den Luftstrom immer wieder in rhythmischen abständen, bis es ihm bewusst wurde. Er lachte! Er hatte gesehen wie eine Kollegin vor 20 Minuten auf seinem S-Klasse-Mercedes ums Leben gekommen war und er lachte. Und nicht etwa verzweifelt oder hysterisch, nein, es war ein absolut echtes, ehrliches und herzhaftes lachen. Ein glückliches lachen, wie als er im Schullandheim einem schlafenden Mitschüler dessen Hand in eine Schale warmen Wassers getaucht hatte und der prompt vor versammelter Mannschaft, volle Kanne ins Bett zu pissen begann, um dann mit einem bescheuerten Gesichtsausdruck, verschlafen und fragend, in die lachende Menge zu starren. Er lachte und lachte, bis er Schmerzen im Hals und Bauch bekam und lachte weiter und weiter. Bis plötzlich grelles Neonlicht an ging und eine Stimme von hinten mit indischem Akzent sagte: „Entschuldigung?“ und sich Eduards Lachen zu einem Entsetzensschrei verformte, der abrupt abriss. Eine Sekunde lang sahen sich Beide in die Augen. Eduard und der offenbar indische Putzmann, dem noch ein paar Krümel von seinem Butterbrot an der Oberlippe klebten. „Verzeihung!“ keuchte Eduard, griff in seine Hosentasche und ließ alles Geld seiner Faust, es waren auch Scheine dabei, auf den Boden fallen, um sich Sekunden später wieder hallenden Schrittes auf dem Weg zum Fahrstuhl zu befinden.
Wieder in seinem Bürozimmer angekommen, machte sich Eduard erst einmal daran ausführlichst die Kakteen zu besprühen und gab sich dabei betont schweigsam, während die anderen noch immer am schnattern waren. Danach platzierte er einen monströsen Druckauftrag, der ihm über zehn Minuten Zeit verschafft, die er neben dem Drucker mit dem in Empfang nehmen von riesigen Mengen von Handouts verbringen konnte, die er anschließend schreddern musste, was ihm weitere zehn Minuten einbrachte. Danach beschloss er, etwas früher als gewöhnlich nach Hause zu fahren und bestellte sich ein Taxi. Zu Hause angekommen ließ er sich erst einmal in einen Sessel fallen und starrte, ohne sich zu rühren, zwei Stunden lang auf die Tapete. Als dann seine Freundin von der Arbeit nach Hause kam und ihn beiläufig fragte, wie denn sein Tag gewesen wäre, sagte Eduard. „Lustig…“ und starrte weiter unbeweglich auf die Tapete.
Das Lächeln
Winter. Der alte Turm war von ziehenden Nebelschwaden verschleiert. Seine Zinnen hoben sich nur noch schwach vom tristen Grau des Himmels ab. Dicke Schneeflocken wirbelten zu Boden, als ob die Winde senkrecht stürzen würden. Eine Krähe versuchte auf dem bebenden Ast eines verkrüppelten Baumes zu landen um gleich darauf wieder zurück in den Wind geschleudert zu werden. Hier, weit vor der Stadt, stand ein Haus. Die Jahrzehnte der Witterung hatten ihm seine stolzen Züge nicht rauben können. Auf dem Balkon saß ein Mann in eine Decke gehüllt und beobachtete das Schneetreiben. Es dämmerte, weit entfernt grollte ein Gewitter. Der Mann erinnerte sich an vergangenes, wie er als Kind bei der Ernte geholfen hatte, an die jungen Kätzchen, eines wurde von einem Hund gefressen, an den Geruch von verbrannten Tannenzweigen, an die Sonnenaufgänge im Herbst als er mit dem Fahrrad zur Schule gefahren war und an einen toten Frosch, den er leicht gebückt, die Arme hinter sich verschränkt mit entzücken beobachtet hatte. Er fragte sich was sich verändert habe in all den Jahren und was von ihm noch übrig war. Ein Blitz hinter der Burg ließ ihre Silhouette violett aus dem Grau aufzucken. Er erinnerte sich, dass er als Kind manchmal gedacht hatte, dass er noch so jung sei – den größten Teil des Lebens noch vor sich hätte. Er erinnerte sich, dass es wohl ein Schutz gegen ein Gefühl von Nutzlosigkeit tief in ihm gewesen war. Damals dachte er sich, dass das eigentliche Leben doch erst noch beginnen müsse, dass dann als Erwachsener alles besser werde, und dass er die Abhängigkeit, die die Kindheit und Jugend mit sich bringt abstreifen werde und gegen etwas wunderschönes Neues eintauschen werde. Der Mann war alt geworden. Seiner kindlichen Abhängigkeit hatte er entkommen können, doch hatte sich das Loch stattdessen nur mit Leere gefüllt. Er erinnerte sich als Kind glücklich gewesen zu sein. Heute war sein Körper verbraucht, sein Geist war stumpf und seine wenigen Freunde hatten sich in alle Winde zerstreut. Hier, weit weg von allem, fühlte er sich einsam. Damals hatte er einmal ein Mädchen geliebt. Es war seine einzige große Liebe gewesen, und er wünschte sich in diesem Augenblick sie noch einmal so zu sehen wie er sie geliebt hatte. Der Mann erinnerte sich, dass sie sehr hübsch gewesen war und versuchte ihr Bild sich noch einmal zu vergegenwärtigen, doch alles was er sah war ein anonymes Gesicht, das nichts von dem erhofften Glanz hatte. Er schloss die Augen und versuchte es wieder. Vergeblich. Dann versuchte er sich eine Photographie von ihr vorzustellen, die im Krieg verloren gegangen war, doch sah er stetig nur dieses merkwürdige, anonyme Gesicht. Eine Zeit lang ließ er sich das Gesicht im Geiste vor sich stehen und bemerkte dann eine langsam schleichende Veränderung in den Zügen um den Mund herum. Sie schien ein Lächeln aufzusetzen, oder etwas ähnliches, der Mann konnte es nicht erkennen. Und plötzlich fuhr es ihm wie ein Schlag durch seinen Körper. Was er zuerst als einen langsam zu lächeln beginnenden Mund gedeutet hatte, entpuppte sich nun als eine wie verhext grinsende Fratze einer alten Frau mit völlig entstellten Gesichtszügen. Der Mann sprang vor Schreck auf und legte die Hände auf die Stirn, doch die Fratze stand ihm immer noch vor Augen. Er schüttelte sich und versuchte sein Gesicht von dieser Frau abzuwenden, doch wohin er es auch streckte, die Fratze blieb ihm wie in die Netzhaut eingebrannt. Der Mann schrie nach Hilfe und rannte mit zugepressten Augen wie ein panisches Tier gegen die Mauern seines Balkons. Dann setzte er zu einem langen, grellen Schrei an, der von der Burg als Echo zurückgeworfen wurde und mit einem dumpfen Schlag endete – Stille folgte. Der Mann lag mit gebrochenem Rücken unter seinem Balkon im Schnee. Er lag zu Füßen einer lebensgroßen Marmorstatue eines kleinen Jungen, der ihn, leicht gebückt und die Arme hinter sich verschränkt, sanft anlächelte.
Sep 18 2008
Caro – Session 4
Michelle
Wütend setzte sie die Tasse auf die Tresen. Wütend klirrte der Löffel am Tassenrand. Der Kaffee schwappte über.
Michelle hatte genug! Sie hatte eine Entscheidung getroffen und es fühlte sich verdammt gut an! So gut wie damals, als sie mit Ihrem ersten Freund Schluss machte, als er ihr gerade zum unzähligsten Mal den Vanille Milkshake bei Mac Donald’s gekauft hatte, obwohl sie schon so oft gesagt hatte, dass sie nur den Schokomilkshake mochte. Wütend und allmächtig wie damals als sie als Teenager beschloss nie – nie wieder in die Schule zu gehen.
Michelle war stinkwütend auf die Welt.
Auf die ganze Welt!! Auf die Politiker, auf ihren Chef, auf ihren Mann, wütend sogar auf ihre dämliche Katze. Michelle lehnte sich zurück und war erstaunt, dass sie plötzlich sicher war, was sie tun würde.
Ein breites Lächeln, fast einem Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus und sie dachte: ich fange einfach hier und jetzt an. Nichts einfacher als dass!
Sie wandte sich an den Anzugsfuzzi, der versuchte lässig neben ihr an der Theke des Cafes zu lehnen: Wollen sie mein Handy haben? – sagte sie mit gewinnendstem Lächeln – Ich brauche es nicht mehr.
Der Mann schaute sie erst erstaunt und dann unangenehm berührt an und wandte sich mit einem höflichen Heben seiner Mundwinkel kommentarlos ab.
So einfach war es also nicht, na ja sie würde schon jemanden finden der ihr Handy wollte, schließlich war es ein sehr gutes Handy mit Kamera und allem Schnickschnack.
An diesem Tag sah weder ihr Chef noch ihr Mann Michelle. Sie schloss sich in ihr Dacharbeitszimmer ein und Ivan, ihr Mann hörte nur ein beständiges Scharren und Schleifen, so als würde Michelle schwere Möbel umher schieben.
Am nächsten Tag spazierte Michelle um viertel nach Elf in das kleine Büro ihres Chefs und sagte: Hi Chef, ich kündige! Äh- Ich nehme meinen Resturlaub der letzten X Jahre, den sie blöder Wichser mir nie genehmigt haben und bin seit gestern aus diesem Scheißbetrieb draußen! Und bevor der Chef auch nur einmal Luft holen konnte: Macht doch eure beschissene Abzocke alleine! Mit hochrotem Kopf und einem schwummrigen Gefühl in den Beinen wartete sie auf die Reaktion. Der Chef wurde plötzlich sehr formell und legte ihr einen Haufen Papierkram vor, den er aus fix und fertig und sauber gestapelt aus einer seiner Schubladen zog. Michelle wurde bewusst dass sie insgeheim gehofft hatte er wäre betroffen von ihrer Kündigung und würde versuchen sie zum Bleiben zu überreden. Dass er nicht einmal fragte, warum sie kündigte machte sie nur noch wütender.
Aber Michelle beschloss sich von dieser kleinen Enttäuschung nicht aufhalten zu lassen. Als nächstes machte sie sich zuhause über ihren Kleiderschrank her. Sie packte alle Unterhosen, BHs und alles andere in mehrere große Plastiksäcke. Dann stand sie stirnrunzelnd da, dann packte sie einen Teil wieder aus, zwei, drei Unterhosen, zwei drei BHs und so weiter, dann schüttelte sie entnervt den Kopf und packte alle wieder ein. Das ganze schwere Packet brachte sie dann schwitzend und fluchend zur nächsten Kirche und dort zur Kleiderspende. Die diensthabende Nonne hatte Tränen in den Augen als sie die Sachen entgegennahm: so schöne Kleidung!!! das wird ihnen der liebe Hergott sicher vergelten!
Michelle war es schurzegal was Gott mit ihr vorhatte, also sah sie die arme Nonne nur hasserfüllt an, so dass diese erschreckt zurückzuckte und sich schnell bekreuzigte. Als Michelle wieder auf der Straße stand und noch einmal darüber nachdachte hörte sich das was die Nonne gesagt hatte gar nicht so schlecht an: Vergeltung! Aber nein, das war dann doch nicht ihr Stil.
Wieder zuhause packte Michelle alle ihre Bücher in mehrere große Kisten. Nachdem sie mehrmals auf und abgelaufen war und die schweren Kisten über die zwei Stockwerke nach unten geschleift hatte, stellte sie diese vor den Eingang ihres Einfamilienhauses. Daneben schrieb sie auf einen Pappkarton in großen Buchstaben: Nehmt euch doch die Bücher, ich will den Scheiß nicht mehr!
Jetzt war sie etwas zufriedener. Sie ging erst mal in die Küche und machte sich eine Tasse Kaffee. Sie legte die Füße hoch, las in der Zeitung über Hungersnöte und Morde und hörte den Vögeln zu. War das nicht idyllisch!
Plötzlich fiel ihr etwas ein. Sie lief schnell wieder in ihr altes Zimmer und schaute sich um. Immer noch stand dort das Bett, die Pflanzen, der Schreibtisch, ihr Bücherregal und….
da klingelte es wild an der Tür. Michelle zuckte zusammen, es war viel zu früh für die Biokiste und zu spät für den Postboten. Als sie die Eingangstür öffnete, stand die alte fiese Nachbarin vom Eckhaus mit den Geranien davor.
Die fing auch gleich ohne Begrüßung an: Was fällt Ihnen eigentlich ein, mich zu beschimpfen! Ich will ihre dummen, gelesenen Bücher auch nicht! Für was halten sie sich eigentlich? Das ist doch eine Unverschämtheit!
Michelle stand wie angewurzelt da. Sie fühlte ihren Mund trocken werden und hörte ihren Herzschlag laut in den Ohren. Sie leckte sich die trockenen Lippen und sagte: Sie alte Hexe, dann kümmern sie sich halt nicht drum. Immer mischen sie sich in alles ein! Nur nicht wenn ihr Sohn mal wieder seine Kinder schlägt! Aber das ist mir egal. Sie sind mir egal und auch der dumme Ikebana/ Nachbarschaftsklub und der Ausschuss zur Pflege der toten Kriegsgefangenen. Verpissen sie sich doch einfach, sie scheinheilige Fotze!!! und damit schlug sie der alten Frau vehement die Tür vor der Nase zu.
Uuui, so etwas hatte sie noch nie getan aber es fühlte sich verdammt gut an!
Jetzt gab es noch eines zu tun, bevor ihr Mann von der Arbeit nach Hause kam.
Sie schaute auf die Uhr. Halb 3. Sie seufzte und stiefelte in Ihr Zimmer im ersten Stock.
Sie beschloss alles was sich noch in diesem Zimmer befand auf ihren Pickup zu laden, alle Möbel mitsamt ihren persönlichen Gegenständen darin.
Aber allein konnte sie das nicht schaffen, sie brauchte einen Verbündeten. Da fiel ihr der kleine picklige Zeitungsjunge von nebenan ein. Sie klingelte an dessen Haustür und sagte sehr höflich zu seiner kuchenbackenden Mutter: oh das tut mir soo leid sie zu stören, aber ich brauchte für ein paar stunden die Hilfe von Tim. Er müsste mir mit ein paar Möbeln helfen, sie wissen schon Frühjahrsputz und so… Selbstverständlich bekommt er auch ein Taschengeld von mir. Die Mutter war sofort Feuer und Flamme und so kam es dass ein mürrischer 14 jähriger ihr in der nächsten Stunde half, ihrer gesamten Besitztümer auf den Pickup zu laden.
Wenn du mir beim abladen hilfst, dann bekommst du den Dvd Player, meinen Fernseher und, sie zögerte etwas…. den Computer!
Das erstemal seit sie begonnen hatten machte sich ein Funkeln in den bisher leblosen Augen des Jungen breit und er nickte, während er versuchte sich seine Begeisterung nicht anmerken zu lassen.
Sie fuhren schweigend ein paar Block, bis Michelle anhielt.
Sie klingelte an der nächsten Haustür ein alter Mann in Jogginghose öffnete die Eingangstür. Ich möchte ihnen etwas von meinen Möbeln schenken. Ich brauche sie nicht mehr…. der Mann schaute sie schweigend ein paar Sekunden an und knallte dann wortlos die Tür zu.
auch beim nächsten Versuch ging es nicht viel besser. Die junge Frau mit einem plärrenden Baby auf der Hüfte schaute sich zwar alles genau an, schüttelte dann aber nervös den Kopf und sagte: ich weiß nicht, ich glaube lieber nicht. Mein Mann würde sicher wissen wollen warum sie die Sachen herschenken…. Michelle überlegte und antwortete: sagen sie ihm doch, dass ich keine Möbel mehr brauche und… aber die Frau hatte sich schon umgedreht und war auf dem Rückweg zu ihrem Haus.
Ratlos schaute Michelle Tim an: und jetzt?
Wir können die Sachen ja einfach in der Einfahrt abladen? War seine Idee.
Michelle schaute auf die Uhr und beschloss dass dies keine schlechte Idee wäre. Also luden sie zu zweit in der nächsten Stunde die Möbel systematisch wieder vor den Garagen / und Gartentoren und in den Einfahrten ab. Der eine bekam den alten Ohrensessel, der nächste die Kommode, dann kam das Bücherregel dran und so weiter. Sie arbeiten schnell, weil wohl beide Angst hatten, dabei erwischt zu werden. Trotzdem machte sich Michelle noch Gedanken und fügte ihrem mentalen Bild der Insassen der Häuser das fehlende Stück aus ihren Möbeln hinzu. Der gepflegte Rosengarten bekam die antike Standuhr, die so schön jede viertel Stunde schlug und das Haus mit der Rutsche den abwaschbaren rosa Klapptisch. Jetzt waren sie viel schneller fertig als gedacht und Michelle schaute auf die leere Ladefläche, auf welcher nur noch der Dvdplayer, der Fernseher und der Computer standen. Nachdem sie wieder zuhause waren, luden Tim und sie diese lezten Sachen, die Michelle besaß ab und Tim verschwand schnell in der Garage mit seinem neuen Eigentum, damit seine Mutter nicht rauskommen und dumme Fragen stellte konnte.
Michelle setzte sich in die Mitte ihres jetzt leeren Raumes, das einmal ihr Zimmer und ihr Rückzugsort gewesen war in den Schneidersitz auf den Boden. Gerne hätte sie ein Kerze angezündet aber sie hatte keine mehr. es dämmerte. Sie wartete. Und wartete. Sie versuchte ruhig zu sein und gelassen, aber ihr herz schlug unregelmäßig und ihre Handflächen wurden immer wieder schweißnass.
Dann hörte sie den Schlüssel, ihr Mann war zuhause!
Hey Michelle
Hey Liebster….
Sie hörte seine schweren Schritte einen nach dem anderen auf der Treppe. Die Dielenbretter knarrten, dann steckte Niels seinen Kopf ins Zimmer: warum sitzt du denn im Dunk…
was zum Teufel ist denn hier los_
Ich habe mein gesamtes Eigentum verschenkt und habe gekündigt. Michelle hatte sich diesen Satz sorgsam zurechtgelegt und versuchte nun ihn möglichst gelassen auszusprechen.
Ah ha.
Warum denn das_
weil ich frei sein wollte.
…..
Frei_ für was?
Frei für dich…
auch das hatte sich Michelle gut überlegt…
Für mich…. Ich versteh nicht…
Ich wollte keine Bindungen an nutzloses Zeug haben und arbeiten um das alles zu erhalten. ich will nicht mehr ich will so nicht weiterleben. Ich kann jetzt überall hingehen und du kannst mitkommen.
Mitkommen wohin? und wer soll alles bezahlen?
Du kannst mir gerne Dinge schenken, so wie ich meine Dinge verschenkt habe, ich will dass du bei mir bleibst weil du mit mir Zeit verbringen willst und mit mir teilen willst. Ich will nicht, dass wir durch Eigentum aneinander gebunden sind.
Niels war blass geworden und lehnte sich an die leere Wand.
Die Worte hallten im Zimmer>
Dann sagte er leise: Ich will aber keine Verantwortung für dich. Ich will nicht der einzige sein, der Verantwortung hat. Du kannst mir das nicht aufbürden…
Michelle war sprachlos.
… und wenn wir schon dabei sind, ich habe es satt dass du immer alles auf mich abschiebst und dich so hilflos und abhängig von mir machst. Mir reicht es. Ich spiele da nicht mit. Ich lasse mich nicht mehr erpressen, nicht von dir, nicht von deinem Vorwurf über unsere ungeborenen Kinder, nicht von diesem Mausoleum unserer Beziehung…. Ich ziehe aus …. das wollte ich dir schon lange sagen.
Michelle starrte vor sich hin und hatte das Gefühl alles schon mal erlebt zu haben, alles war so bekannt und doch ganz neu. Draußen begannen die ersten Schneeflocken lautlos vom Himmel zu fallen.
Sep 4 2008
enzo – session 3
Herr Zill / Die Begegnung
Es war eine sternenklare Nacht, der volle Mond war gerade über den Horizont gestiegen und tauchte die gefrorene Landschaft in ein fahles, bläuliches Licht. Anna nahm auf ihrem Weg zum Hause Zill eine Abkürzung über die Felder. Ihre raschen Schritte knirschten im Schnee und sie summte einen langen, rhythmisch tiefen Ton dazu. Ab und zu hielt sie kurz an und pustete Kondenswölkchen gegen das Mondlicht. Auf den letzten Metern zur Haustür huschte ihre überlebensgroße Silhouette über die Hauswand und als Gänsehaut weiter über ihren Rücken. Hastig sperrte sie hinter sich die Haustür zu, hielt einen Moment inne und spürte wie ihre imaginierten Verfolger von ihr abfielen. Sie zog sich um, machte die Runde, entdeckte den Zettel, steckte ihn in ihre Schürze und bereitete sich erst mal einen süßen, heißen Früchtetee mit Schuss in der wohlig warmen Küche. Mit der Porzellantasse in der rechten Hand, und einem Kandiszucker in der Linken, schubste sie sich ihre Nickelbrille auf die Nase, sie machte eigentlich immer drei Dinge gleichzeitig, drehte sich den Zettel zu recht und las.
Etwa vier Stunden später, die Sonne war gerade aufgegangen, stand Anna stocksteif und mit pochendem Herzen vor der verschlossenen Türe des Turmzimmers. Sie hatte ihre roten Zöpfe hart geflochten, sich vermutlich zehn mal umgezogen und nach gründlicher Überlegung beschlossen, einen Hauch Gesichtspuder und keinen Liedstrich aufzulegen. Ja, besser keinen Liedstrich! Auf der gegenüberliegenden Seite der verschlossenen Türe stand, ebenfalls stocksteif Herr Zill, in einem nagelneuen Anzug und konzentrierte sich mit geschlossenen Augen auf seine Atmung. Jeden Moment musste die Standuhr im Nebenzimmer zur vollen Stunde schlagen… jeden Moment. Doch ausgerechnet heute war die Standuhr beleidigt, denn jemand hatte vergessen sie aufzuziehen und so wollte dieser quälend lange Moment einfach kein Ende nehmen. Wie zwei Zinnsoldaten standen die beiden sich gegenüber. Sie nagte auf ihrer Unterlippe herum und knirschte gleichzeitig mit den Zähnen. Er hatte zunehmend Mühe seine aus Nervosität anschwellenden Blähungen zurück zu halten und kämpfte mit sporadischen Bauchstichen. Und als er in dieser unendlichen Ewigkeit bereits auf den spitzesten Zehenspitzen stand und ganz und gar eins war mit seinen auf das höchste zusammen gepressten Pobacken, entwich ihm abrupt und lautstark, ein hoher und scharf abfallender Posaunenton und Anna schlug sich im ruckartigen Zurückweichen den Hinterkopf an einem Wandspiegel, der in tausend Stücken am Boden zerschellte. Als sich auch die letzten Scherben zwei Stockwerke tiefer beruhigt hatten, entstand eine längere Stille, in der die Beiden gebückt, alle Viere und Finger von sich gestreckt, wie alberne Bronzestatuen, die Luft anhielten und mit weit aufgerissenen Augen angestrengt dem pumpenden Blutfluss in Ihren Ohren lauschten. „Anna?“ (…) „Jaaaa?“ (…) „Gah… [ Schlucken ] Geht es Ihnen gut?“ Die beiden verharrten regungslos. „Ja mir geht es gut! (…) Danke (…) der Nachfrage!“ Herr Zill führte schleichend langsam seine Hand zur Klinke. „Ich mach jetzt die Tür auf!“ (…) „Ist Guuhuut.“
Sechs Monate später, es war ein herrlich sommerlicher Vormittag, fuhren die beiden in einem orange-gelben, verdecklosen Sportwagen durch die schnurgeraden Alleen der Provence. Alles blühte und Anna küsste ihn und jauchzte. „August! Du bist der beste!!!“ Und Herr Zill drückte, lässig im Ledersitz hängend, noch etwas fester aufs Gaspedal und schmunzelte unter seiner formschönen Sonnenbrille hindurch. „ Anna stand auf, ihre langen Zöpfe hoben sich in die Horizontale und sie streckte ihre Hände weit nach vorne. “Ich will heute am Meer Frühstücken!“. „Klingt gut.“ Die beiden waren inzwischen seit Wochen unterwegs. Ihr Leben war ein Holterdiepolter aus Sex, rasanten Autofahrten zwischen teuren Hotels, Sex, Einkaufstouren, noch mehr Sex, teuren Restaurants, Kirchen, Museen, Sex in Museen, Sex in Kirchen, Baden, Sonnenbaden und Champagner. Herr Zill hatte neulich sogar eigens für einen Maskenball in Helsinki zwei sehr kuschelige Kranichkostüme schneidern lassen, mit denen man durch praktische Reißverschlüsse an den wichtigen Stellen prima im stehen vögeln konnte und das unerkannt inmitten eines überfüllten Ballsaales! Allerdings, nur ein wirklich saftiges Trinkgeld konnte die beiden davor bewahren, von einigen Ordnungskräften danach über die barocken Balustraden des Schlossgartens ins eiskalte Meer befördert zu werden. Außerdem entwickelten sie eine Leidenschaft fürs Tontaubenschiessen. Sie wurden beide wirklich richtig gut darin. Später wurden aus den Tontauben Weinflaschen, dann Keramikarbeiten und später Wassergläser von Hotelgästen, am besten wenn sie gerade zum Mund geführt wurden. Ihr Sportwagen war einfach nicht einzuholen. Und wenn doch, dann gab es ja noch Bargeld. Sie machten nächtelange Versuchsreihen in denen Sie ihre unter zunehmendem Alkoholeinfluss abnehmende Treffsicherheit untersuchten und dabei nicht unerheblichen Sachschaden verursachten. Ja, sie waren glücklich miteinander und Herr Zill hatte seit langem keine Menschen mehr umbringen lassen. Doch eines Tages, sie schlenderten gerade über eine der teuersten Einkaufsmeilen in London, Anna im extraknappen Minirock und er beladen mit einem Dutzend ihrer Einkaufstaschen, da schnappte er die Schlagzeile der Züricher Zeitung auf. Herr Zill blieb stehen und wandte sich zu Anna um. „Ich muss mal telefonieren.“ „Wen rufst Du an?“ „Wir treffen uns im Hotel Liebes ja? Dauert nicht lang!“ Und er verschwand in einem Restaurant. Als er sich etwas später auf eine unverschämt bequeme Couch in ihrer Hotelsuit fallen lies und Anna beim Duschen zu sah, hatte sein soeben telefonisch losgetretener Stein bereits eine stattliche Lawine ausgelöst, die in Kürze zu einem brutalen Krieg mit tausenden Toten auswachsen würde. So einfach könne man ihm nicht in die Suppe spucken, dachte er, schnaubte und fasse beschwingt mit spitzen Fingern in eine chinesische Fruchtschale.
Anna war bildschön. Er war sich so sicher, dass Anna eine ahnungslose, naive, junge Haushälterin war, dass er seine Paranoia ihr gegenüber inzwischen völlig verloren hatte. Sie war der erste Mensch, dem er fast vertraute. Doch Anna hatte in dem Jahrzehnt im Hause Zill mehr als nur den Haushalt geführt. Sie musste ihm nicht einmal hinterher schnüffeln. Ihr reichte es mit offenen Augen durch das Haus zu spazieren. Sie hatte ihn durch die Wände lesen gelernt und irgendwann eine ziemlich gute Idee, wer Her Zill war und was er tat. Schon als Kind konnte man ihr nichts vormachen. Den Weihnachtsmann hatte sie schon mit drei Jahren durchschaut und hatte dann heimlich mitgespielt. Und als Sie zu gute Noten in der Schule bekam, machte sie absichtlich Fehler um nicht aufzufallen. Im Hause Zill liefen die Fäden zusammen, auch wenn niemand ein und aus ging und wenn ein Beben die Welt erschütterte, konnte man es am Vorabend im Hause Zill schon Zittern spüren. Die Welt hielt Anna für normal und Anna hielt die Welt fest in ihrer Hand.
Annas Traum
Die Felder waren ineinander verkettet. Düster ragten nur wenige Erdklumpen aus dem zarten Bodennebel auf und schwebten wie eine Panzerkompanie ostwärts, als trügen sie den Befehl zum Angriff in sich. Statt Zaunmasten wuchsen maskierte Männer aus dem Boden, die einander auf Haars glichen und in ihren Händen Fischernetze trugen, die sich in Boden und Himmel fraßen. Anna war taub, oder die Welt um sie ohne Geräusch, und immer wieder versuchte sie zu entkommen, begann zu rennen, doch kam nicht weit. Ohne zu verstehen wie, fand sie sich wieder an dieselbe Stelle im Acker festgezurrt, von der aus die losgelaufen war – immer und immer wieder wurde sie zurückgeworfen. Die bis zum Horizont aufgereihten Männer schielten mit offenen Mündern auf ihre eigenen, buschigen Augenbrauen. Die Bedeutung dessen, was sie im Chor soeben noch gesagt zu haben schienen, hallte noch immer durch Annas Verstand, doch an dessen Klang konnte sie sich nicht mehr erinnern. „Wir lieben Dich!“ Jede Berührung fühlte sich taub an und ihr Kopf war so schwer, dass er ständig nach hinten abzureißen drohte. Anna streckte den Arm aus, zielte auf eine der Masken und zerplatzte dessen Kopf mit einer Bewegung von Zeigefinger und Daumen, als würde sie einen nassen Kirschkern wegschnippen. Statt rotem Blut verdampfte weißes Pulver, das schwerer und schneller als Nebel unerschöpflich aus den offenen Adern quoll. Der federleichte Kopflose sank auf die Knie und kollabierte – seine Fischernetze segelten mit ihm zu Boden. Anna fuhr fort und nahm ihren zweiten und dritten Arm zum Wegschnippen der Kirschkerne zu Hilfe. Und obwohl die Köpfe immer schneller und ferner platzen, sah sie alles wie zum greifen nahe vor sich. Und da tippte sie etwas von hinten an, Anna erschrak und riss sich herum. Vor ihr stand einer der maskierten und hielt ihr grinsend eine Hand voll Himbeeren entgegen. Und währen ihres atemlosen Zögerns schien die Maske transparent zu werden und Herr Zill schnaubte und griff sich mit spitzen Fingern eine der Himbeeren und legte sie Anna durch ihren fest zugepressten Mund auf ihre Zunge. Dann riss die Welt gänzlich auf und ein gewaltiger Überdruck entwich tosend aus Annas Ohren, ihr Hals knickte nach hinten ab und ihr Hinterkopf schlug schmerzhaft gehen ihren Rücken. Und die tiefe, bassige Stimme von Herrn Zill sagte: „Ich liebe Himbeeren?“
Sep 4 2008
caro – session 3
Stille Nacht
Leere. Stille. Nacht.
Irgendetwas ist anders. Ich weiß nicht was.
Zögernd stehe ich auf.
Meine Hand ertastet die Türklinke und drückt sie nieder.
Ein Mann spricht! Schweißnasse Hände. Mein Magen verkrampft sich. Die Dunkelheit wird dichter und greift nach mir.
Jetzt! Es trifft mich plötzlich, die Erkenntnis.
Ein Mann! Spricht!
In meinem Bad!
Mein Herz hämmert.
Dann… mein Körper entspannt sich. Schneller als die Erkenntnis mir bewusst ist..
Ah. Das Radio, es ist nur das Radio.
Ich geht ins Bad und stelle das Radio aus.
Stille.
Der nächste Morgen ist sonnig und freundlich.
Als wäre nicht gewesen.
12.00 nachts. Lärm, ich wache auf. Das kleine schwarze Radio brüllt. Ich dachte ich hätte es gestern Nacht sicher ganz ausgeschaltet.
Als ich von lauter Technomusik aufwache, gehe ich in der nächsten Nacht ins Bad und stelle routiniert das Radio aus. Die schwarze Katze kommt und streicht mir um die Beine. Schnurrt..
Vielleicht ist sie an den Schalter gekommen? Aber eigentlich geht das Nicht, denn der Schalter ist kein Kippschalter. Es ist jetzt genau 5.00 und ich bin müde. Ich ziehe den Stecker. Die Musik erstirbt mit einem letzten gequälten Heulen.
Ich bin misstrauisch und schlecht gelaunt. Überlebe nur mit ganz viel Kaffee. Ich erzähle einer Nachbarin im Treppenhaus von meinem Radio und sie schaut mich komisch an. Dann erzählt sie mir, dass in dieser Wohnung schon mal jemand gestorben ist und macht eine Pause. Ich zucke die Schultern. Ich denke: in den meisten Wohnungen ist schon mal jemand gestorben.
Dann sagt sie mit leiser Stimme: Sie wurde genau um Mitternacht von ihrem Mann im Bad ermordet! Aber erst um 5 Uhr war sie tot. Ich denke nicht, dass ich diese Information wollte. Habe ich danach gefragt?
Heute Nacht ist mir die Decke auf den Kopf gefallen. Es hat ganz schön gekracht. Erst hat sich eine der Deckenplatten gelöst, dann, gerade als ich aus dem Zimmer schauen wollte, um nach dem rechten zu sehen, hat die zweite meinen Kopf um Millimeter verfehlt. Dann, als ich mich dort mit hämmernden Herzen und weichen Knien am Türrahmen festhielt, die dritte.
Der Hausmeister der gerade hier war, hat gesagt, dass wohl eine der Platten lose war und die anderen sich deshalb aus der Verankerung gelöst haben. Ich denke das wird es sein.
Aug 22 2008
enzo – session 2
Herr Zill
Herr August Zill begann schon etwas zu frieren. Er hatte das Kaminfeuer herunter brennen lassen, ohne seinen gläsernen Blick davon zu nehmen. Wieder einmal musste er die von ihm so geschätzte Unbeweglichkeit verlassen. Sein Unterkiefer leitete eine langsame Bewegung ein, die mit der Hand über der Asche des Kamins zum Stillstand kam. Die Dämmerung warf nur noch wenig Licht durch die großen Fenster des stattlichen Landhauses, das von einer hohen Mauer eigentümlich isoliert in der prachtvollen, Schnee verwehten Landschaft stand. Nur ein schmaler Kiesweg, der die benachbarten Dörfer miteinander verband, führte am Zaun des weitläufigen Grundstücks vorbei. Herr Zill verließ sein Haus seit langer Zeit nicht mehr. Vor zwölf Jahren hatte er eine Haushaltskraft eingestellt, mit der er seit dem ausschließlich schriftlich, über Zettel verkehrte. Sie hieß Anna Silfert und hatte sich schnell an die absonderlichen Anforderungen gewöhnt, denn die Bezahlung war außerordentlich gut. Es galt alle schriftlich erteilten Befehle präzise und unverzüglich umzusetzen und dabei für Herrn Zill absolut unsichtbar zu bleiben. Deshalb arbeitete sie vorwiegend nachts wenn Herr Zill schlief. Um sich geräuschlos im Haus bewegen zu können, hatte sie sich eine Reihe von Schuhüberzügen aus Stoff genäht und alle quietschen Dielen und Treffenstufen zusätzlich verleimt, dass man eher eine Feder hätte fallen hören, als Anna, die schwere Kisten vom zweiten Stock in den Keller trug. Ein Zeitplan half den beiden sich nicht zu begegnen und dieser Plan war seit dem Tag seiner In-Kraft-Setzung vor zwölf Jahren weder geändert noch jemals von einem der beiden verletzt worden. Selbst in absoluter Dunkelheit bewegte sie sich rasch und elegant wie eine Katze durch das verwaiste Haus, in dem es kein Leben zu geben schien. Sie hatte Herrn Zill in all den Jahren nicht ein einziges mal zu Gesicht bekommen.
Herr Zill hatte den Brief vom Notariat Schifer & Kolbert bereits vor Stunden geöffnet, doch gelesen hatte er ihn nicht. Das musste er auch nicht, denn der Absender war bereits die Botschaft. Sein ganzes Leben hatte er auf diesen Tag hin gearbeitet, genau genommen war er für diesen Tag geboren worden. Aus einer seltsamen Unruhe heraus, rieb er seit Stunden seine Hände ohne es zu bemerken. Jetzt war er der letzte seiner Art – der einzige überlebende. Die Familie Zill war seit sieben Generationen im Bankgewerbe und repräsentierte seit zwei Generationen die größte Finanzdynastie der Welt. Doch die Familie hatte seit heute nur noch ein einziges Mitglied, denn Herr Zill hatte seinen Bruder beseitigen lassen. Ein jahrzehntelang wütender Krieg, dessen Ziel es war, die Macht auf immer weniger und weniger Spieler zu verteilen, hatte mit diesem Brief seinen Endpunkt gefunden. Seit heute gab es niemanden mehr zu ermorden, niemanden von Relevanz. August Eduard Fernandes Zill und nur er allein kontrollierte die drei einflussreichsten Zentralbanken der Welt, die neun Zehntel der freien Medienwelt kontrollierten, die wiederum seit vielen Dekaden die Präsidentschaftskandidaten der großen Industrienationen nach belieben aufbauten oder zerstörten. Der Öffentlichkeit war er unbekannt. Seine Familie wusste seit Generationen, dass wahre Macht nur aus strikter Anonymität heraus, gleichsam unsichtbar agieren musste, um sich seine Feinde vom Leib zu halten.
Herr Zill stand aus dem Kaminsessel auf und trat vor die Ahnengalerie aus edlen Hölzern und Marmor – eine Wand übersät von schweren, prachtvollen Bilderrahmen mit staubigen Portraitphotos seiner ausgerotteten Familie. Die Arme hinter dem Rücken verschränkt, stand er eine Weile vor dieser Gesichterflut, den notariellen Brief zwischen Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand geklemmt. Das unscheinbare Portrait seines Bruders hing seitlich und tief und hatte nie viel Beachtung erhalten. Er wandte seinen Blick nicht vom größten und prächtigsten aller Bilder ab, dem Portrait des Großvaters, dessen Rahmen aus massivem Gold von einem Mann alleine nicht zu heben war. Der große Erich Zill hatte so viel Macht wie keiner vor und keiner nach ihm und selbst heute noch, fünfundzwanzig Jahre nach seiner Ermordung war er immer noch für die mächtigen dieser Welt, ein Schatten aus dem sie niemals heraus treten würden.
Herr Zill stand steif und wie hypnotisiert von dem strengen, autoritären Blick seines Großvaters und seine verschwitzten Hände hielten sich aneinander fest. Vor diesem Moment hatte er sich seit Jahren gefürchtet, dem Moment an dem er sich zum ersten mal selber werde spüren müssen, an dem alles voraus laufen ein Ende haben würde. Das große Portrait blieb stumm – konnte zum ersten Mal keine Antwort liefern. Heute war der Tag, an dem er entscheiden musste, was er selber wollte. Und allein die Tatsache, dass er es bis heute nicht geschafft hatte aus dem Willen seines Großvaters heraus zu treten und seinen eigenen dagegen zu stellen macht ihm klar, dass er es auch heute, ja gerade heute, nicht schaffen werde. Und voller Ohnmacht sank er langsam zu Boden. Stunden um Stunden, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, kauerte er auf dem Nussholzparkett. Immer wieder flüsterte er in seine Faust: „Ich brauche Hilfe!“. Und nach langer Regungslosigkeit, zog er mit einer schnellen Bewegung einen Notizblock samt Bleistift aus seiner Jacket Tasche, und schrieb eine Notitz an seine Haushaltskraft. „Ich weiss, es wirkt merkwürdig, aber ich muss Sie sehen – ich muss Sie etwas fragen – keine Sorge, es ist alles in Ordnung – ich brauche ihren Rat – klopfen Sie Morgen früh um 8:00 Uhr an der Tür des Turmzimmers. Ich werde Sie empfangen.“ Er stand ruckartig auf, mit hämmernden Kopfschmerzen taumelte zur Tür, schaffte es nur mit Mühe den Zettel wie gewöhnlich an eine schwarze Tafel zu heften, und quälte sich die Treppen hoch zu seinem Schlafzimmer. Ohne sich umzuziehen ließ er sich auf das Bett fallen und erstarrte sofort. Herr Zill war alles andere als ein ängstlicher Mann, doch in dieser Nacht überkam es ihn. „Ich weiss ja nicht einmal wie Anna aussieht!“, flüsterte er.
Die Lampe
Ein junger Mann lebt in einem Haus. Er hat Angst vor sich und der Welt, die ihn beobachtet. Er verschließt die Fenster und Türen, so dass ihn niemand sehen kann. Nur in einem Zimmer des Hauses fühlt er sich wohl, das Dachzimmer. Dort tut er nichts besonderes, nichts was es wert wäre erzählt zu werden. Manchmal ist er lieb zu seiner Lampe, die neben der verschlissenen Matratze steht. Er redet mit ihr und teilt mit ihr sein Leben, doch stets ohne den Mund zu öffnen. Dann ist ihm leicht und er liebt sein Haus, doch manchmal ist er einer, der seine Lampe hasst. Sie sieht dann böse aus, wie seine Mutter, wenn er in den Schmutz gefallen war. Die Lampe steht dann neben dem Bett, als habe sie die Arme in den Hüften, die Augenbrauen tief gesenkt und ein verurteilendes Glitzern in den Augen. Der junge Mann sitzt dann in der gegenüberliegenden Ecke des Dachzimmers und sieht sie nicht an. Weil er glaubt, wenn er es täte, würde sie ihn bestrafen. Wie zwei Feinde, bis an die Zähne mit Argwohn bewaffnet, sitzen die Beiden dann da und schweigen. Abends spendet sie immer Licht, doch das Licht ist niemals das Selbe. Wenn ihm danach ist eine Tasse Tee vor dem zu Bett gehen zu trinken, sieht das Licht der Lampe aus als freue es sich an der Gesellschaft des Teetrinkers, und sein Haus gefällt ihm. Doch an manchen Tagen, die er fürchtet, hat die Lampe keinen Sinn für Tee. Dann beißt ihr Licht die Augen, es wehrt sich wie es nur kann und des Öfteren hat er dann den Tee verschüttet. Tagaus, tagein ist der junge Mann alleine mit der Lampe im letzten Zimmer des Ganges am Ende der Treppe. Die Fenster sind stets geschlossen und einen Blick auf die Straße wagt er nur, wenn seine Lampe schläft…
Es geschah an einem Sonntagmorgen. Die Lampe schlief sonntags immer besonders lange und der junge Mann sehnte sich danach, wieder einmal den Reif auf dem Acker hinter der Straße zu sehen. Er stellte sich die Nebelschleier hinten beim Hügel vor, auf dem er als Kind immer mit dem Schlitten gefahren war. Vorsichtig deckte er sich ab, die Lampe schlief. Er wackelte mit den Zehen und drückte die Brust durch, wagte jedoch nicht zu gähnen. Leise stand er auf, immer die Lampe in den Augen und ging rückwärts zum Fenster. Seine nackten Füße spürten die Kälte des Fußbodens. Den Arm hinter sich gestreckt, ertastete er das Fensterbrett. Die Lampe schien schon etwas unruhig zu werden, dennoch wollte er es wagen. Noch nie hatte sie ihn dabei beobachtet wenn er aus dem Fenster gesehen hatte und er wusste, dass sie schrecklich wütend werden würde. Er drehte sich um, langsamer hätte eine Schnecke das auch nicht gekonnt, den Blick immer auf die Lampe gerichtet. Jetzt musste er nur noch die Augen in die passende Position drehen, seine Hand hatte den Vorhang schon ein Stückchen zur Seite geschoben. Der Berg war an der Nordseite mit Schnee bedeckt und der Acker war durch die klirrende Kälte zu Stein gefroren. Dünne Schneeflöckchen wirbelten in einem lustigen Spiel zu Boden und tanzten von dort aus weiter nach Osten, zur stillgelegten Zementfabrik Zemeton. Eine alte Frau fütterte die Krähen mit Brotkrümeln. Er erkannte sie nicht richtig, doch es hätte die Großmutter eines Jungen seinen können, den er als Kind einmal zum Spielen besucht hatte. Sie spielten damals mit Glasmurmeln, von denen manche im Innern einen bunten Fleck hatten, der besonders schön aussah, wenn man die Murmel kurz vors Auge gegen das Fenster hielt. Die Frau war sehr alt geworden, so alt wie die Eiche vorm Haus schon immer gewesen war. Die Straße war leer wie gewöhnlich und… …plötzlich hatte er das Gefühl seine Lampe würde ihn beobachten, als würde sie hinterlistig vor ihm ihre Wachheit verbergen, nur um seine Schande anzuprangern. Er bekam es mit der Angst. Noch nie war sie so böse auf ihn gewesen. Den Kopf so weit wie nur möglich eingezogen, die Lippen aufeinander gepresst und die Augen auf einen Spalt geschlossen, wie einen spitzen Gegenstand erwartend, drehte er sich nicht schneller zurück, als er sich hingedreht hatte. Und er sah, dass das Unglück noch viel größer war, als er es sich hatte ausmalen können. Sein Schrecken war so groß, dass sein Herz lauter pochte als die alte Standuhr tickten konnte. Seine Lippen zitterten, die Knie wurden weich wie Butter, sein Kopf wurde ihm ein Vogelschwarm und sein Gesichtskreis verengte sich auf ein kleines Loch, indem gerade noch die Lampe Platz hatte. Doch es war nicht mehr seine Lampe.
Es war Vater, der auf Mutter einschlug. Mutter schrie. Mutter weinte. Vater nahm ihren Kopf und schlug ihn gegen den Kamin. Es war in einem Zimmer des Hauses gewesen, das der junge Mann seit dem aus Angst nicht mehr betreten hatte. Er sah wie Vater Mutter zerriss. Er sah ihr Blut. Er sah die versperrte Tür, aus der er nicht entkommen konnte. Er sah Mutter am Boden liegen, und er sah Vater, der wie übergossen mit fremdem Blut, schwer atmend, auf einem Hocker saß und lachte.
Der junge Mann drückte sich mit dem Rücken gegen das Fenster. Niemals zuvor hatte er solche Gefühle oder Gedanken gehabt. Er wollte seine Lampe nehmen und zerschlagen, Rache nehmen für etwas, dass er nicht verstand.
Ihm war, als wäre er wieder ein Kind. Tränen sprangen ihm in die Augen. Laut um Verzeihung schreiend, kauerte er sich zusammen, hielt sich die Ohren und Augen zu und winselte wie ein verendendes Tier. So verharrte er eine Weile und als er keine Luft zum Atmen mehr bekam, sprang er auf, wie er noch niemals in seinem Leben zuvor gesprungen war und rannte mit ganzer Kraft quer durch das Dachzimmer auf Vater zu und zerschellte mit einem schrecklichen Knirschen an der Mauer, die hinter der Lampe stand. Sein Schädel war zersprungen, die Lampe umgekippt. Sie lag da, als würde sie jetzt auch sterben. Gekrümmt kauerte er auf der Matratze, und direkt vor seinen Augen lag die sterbende Lampe. Sie tat ihm leid, doch bevor seine Hand sie noch zum letzten Streicheln erreichte, verlor er das Bewusstsein und die Lampe war tot.